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Arbeit und Alltag Beiträge zur ethnografischen Arbeitskulturenforschung
Hg. von Irene Götz, Gertraud Koch, Klaus Schönberger und Manfred Seifert
Im postfordistischen Zeitalter sind Beschäftigte prekären Arbeitsverhältnissen und brüchigen Lebensläufen ausgesetzt. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, die eigene Lebenssituation reflexiv zu verorten und sprachlich zu verarbeiten. Dies gilt vor allem für Beschäftigte aus den Bereichen der immateriellen Arbeit, die in hohem Maße mit entgrenzter Arbeit konfrontiert sind und deren Aufgabenfeld insbesondere kommunikative Tätigkeiten umfasst. Ove Sutter weist in einer ethnographischen Untersuchung nach, dass autobiographisches Sprechen und Erzählen eine grundlegende Alltagspraxis darstellt, die Prekarität immaterieller Arbeit zu bewältigen und ihr zu widersprechen. Ausgezeichnet mit dem »Doc.Award« 2012 der Universität Wien und der Stadt Wien für hervorragende Forschungsleistungen.
»Sutter argumentiert anspruchsvoll: Er verbindet zwei große Forschungsbereiche unseres Fachs, holt im Theoretischen weit aus, bezieht breit Sekundärliteratur auch aus anderen Fächern ein und schildert detailliert die ökonomischen, rechtlichen und politischen Hintergründe seines Feldes.« Esther Gajek, Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Vorwort
Arbeit und Alltag Beiträge zur ethnografischen Arbeitskulturenforschung Hg. von Irene Götz, Gertraud Koch, Klaus Schönberger und Manfred Seifert
Autorentext
Ove Sutter ist Juniorprofessor für Kulturanthropologie/Volkskunde an der Universität Bonn.
Klappentext
Im postfordistischen Zeitalter sind Beschäftigte prekären Arbeitsverhältnissen und brüchigen Lebensläufen ausgesetzt. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, die eigene Lebenssituation reflexiv zu verorten und sprachlich zu verarbeiten. Dies gilt vor allem für Beschäftigte aus den Bereichen der immateriellen Arbeit, die in hohem Maße mit entgrenzter Arbeit konfrontiert sind und deren Aufgabenfeld insbesondere kommunikative Tätigkeiten umfasst. Ove Sutter weist in einer ethnographischen Untersuchung nach, dass autobiographisches Sprechen und Erzählen eine grundlegende Alltagspraxis darstellt, die Prekarität immaterieller Arbeit zu bewältigen und ihr zu widersprechen.
Leseprobe
1 Einleitung Einstieg "Prekarität ist die Unsicherheit von Lebensverhältnissen durch Widerruflichkeit des Erwerbs" - so lautet die kurze Formel, mit der Martin Dieckmann den Charakter prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse in Anlehnung an Karl Marx' Definition des "freien Arbeiters" als "virtuellen Pauper" auf den Punkt bringt (Dieckmann 2005: 9; Marx 1974: 497). Dieckmann liefert hier nicht nur eine prägnante Definition prekärer Arbeitsverhältnisse, sondern er argumentiert weiter, dass Prekarität derart das generelle Grundmerkmal der Lohnabhängigkeit im Kapitalismus ist. Prekarität ist somit kein historischer Sonderfall einer eingrenzbaren Gruppe von Beschäftigten, sondern betrifft potenziell oder "virtuell" all jene, die nicht über die Produktionsmittel, sondern lediglich über das Vermögen ihrer Arbeitskraft verfügen. Um ihre Existenz und die ihrer Haushaltsangehörigen zu sichern, sind sie gezwungen, ihre Arbeitskraft an jene zu verkaufen, deren Interesse es ist, die Lohnkosten möglichst gering zu halten, um auf dem Markt konkurrieren zu können. Dass die Lohnabhängigen überhaupt einen Käufer ihrer Arbeitskraft finden, ist nicht garantiert. Ab den fünfziger bis zu den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts bestand der Interessenskonflikt zwischen Arbeit und Kapital in den westlichen Wohlfahrtsstaaten zwar weiter, wurde aber für einen Teil der lohnabhängigen Bevölkerung - vor allem fachlich ausgebildete männliche Angehörige der Mehrheitsgesellschaft - entschärft und befriedet. Arbeitsrechtliche Regulierungen wie Kündigungsschutz, Tariflohn, Arbeitszeitbegrenzungen, bezahlter Urlaub und soziale Sicherungsysteme wie Arbeitslosen-, Kranken-, Unfall- oder Pensionsversicherung relativierten die Widerruflichkeit des Erwerbs. Die Arbeitskraft wurde teilweise "dekommodifiziert" (Esping-Andersen 1990), das heißt sie war nur eingeschränkt dem freien Wettbewerb und seinen Konkurrenzlogiken ausgesetzt. Mit der teilweisen Dekommodifizierung der Arbeitskraft wurde der Verlauf des individuellen Lebens planbarer und vorhersagbarer. Es bildete sich die soziale Institution eines Normallebenslaufs heraus, der um das Erwerbssystem herum organisiert war und normierte Erwartungssicherheiten beinhaltete. Damit einhergehend bildeten sich Lebensführungskon-zepte, in deren Mittelpunkt das Leitbild der konsumierenden heterosexuellen Kleinfamilie mit einer weiblichen Mutter und Hausfrau sowie einem männlichen Familienernährer stand, der von der Ausbildung bis zur Pensionierung im selben Betrieb arbeitet. Ebenso grundlegend basierten diese Lebensführungskonzepte auf einer räumlichen und zeitlichen Trennung von Arbeit und Nicht-Arbeit. Die vom Normallebenslauf geprägten Erfahrungen, Wertorientierungen und Praktiken wurden zu einer "historischen Massenerfahrung" (Rosenbaum/Timm 2008: 50). Diese wohlfahrtsstaatlichen Regulierungen und damit einhergehenden Lebensführungskonzepte waren das Ergebnis eines Klassenkompromisses, der sich in langwierigen sozialen Kämpfen herausgebildet hatte und von gesellschaftlichen Machtkonstellationen abhing (vgl. Hauer 2007). Die Sicherung der Lebensverhältnisse der lohnabhängigen Bevölkerung und auch die Erwartbarkeit individueller Lebens- und Erwerbsverläufe war damit nicht garantiert, sondern an gesellschaftliche Kräfteverhältnisse ge-bunden. Sie blieb potenziell widerruflich und umkämpft. Seit Ende der siebziger Jahre haben sich die Kräfteverhältnisse zwischen Arbeit und Kapital in den westlichen Industrienationen verschoben. Fortan tritt für einen wachsenden Teil der Beschäftigten das strukturelle Grundmerkmal der Lohnabhängigkeit, die Widerruflichkeit des Erwerbs und damit die soziale Verunsicherung der Lebensverhältnisse, wieder stärker zutage. Zwar gibt es weiterhin einen großen Teil umfassend geschützter und regulierter Normalarbeitsverhältnisse, diese geraten aber zunehmend durch eine wachsende Zahl wenig sozial abgesicherter sowie räumlich und zeitlich entgrenzter Arbeitsverhältnisse unter Druck. Die erkämpfte Normalität der Erwartbarkeit des eigenen Lebens- und Erwerbsverlaufs wird zunehmend widerrufen. Dieser Widerruf führt jedoch nicht zu einer einfachen Rückkehr zur Prekarität oder "Proletarität" (Roth 1994) der frühen Industrialisierung. Die aktuellen Politiken sozialer Verunsicherung treffen auf vergesellschaftlichte Individuen, die nicht aus vor- oder nichtkapitalistischen Lebenswelten herausgerissen wurden, sondern bereits "hoch entwickelte kapitalistische Subjekte" (Dieckmann 2005: 13) sind. Sie treffen auf Lebensführungskonzepte und damit verbundene Formen des Wahrnehmens, Denkens und Handelns, in denen die subjektiven Erfahrungen von Planbarkeit und Vorhersagbarkeit des eigenen Lebens- und Erwerbsverlaufs sowie der räumlichen und zeitlichen Trennung von Arbeit und Nicht-Arbeit aus mehreren Jahrzehnten fordistisch-wohlfahrtsstaatlicher Regulierung nachwirken. Die aktuellen Prozesse der Prekarisierung und die damit einhergehende Destandardisierung und Deinstitutionalisierung von strukturierend wirkenden sozialen Lebenslaufmustern führen zu einer Zunahme "biographischer Unsicherheit" (Wohlrab-Sahr 1993). Lohnabhängigkeit unter den Bedingungen prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse ist in westlichen Wohlfahrtsstaaten zu einem nicht normalen, ungewohnten und verunsichernden Alltagskonflikt geworden, mit dem die Betroffenen umzugehen gezwungen sind. Die Subjekte werden nun in verstärktem Maße dazu aufgerufen, sich selbstverantwortlich und eigeninitiativ um die zukünftige Absi-cherung ihrer sozialen Existenz zu kümmern. Sie werden …
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