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Das Schweigen der Täter, unbearbeitete NS-Verbrechen und Traumatisierungen durch den Zweiten Weltkrieg wirken kaum bemerkt bis heute nach. Still prägen sie als 'vererbtes' Leid das Leben vieler Menschen, beschädigen Biografien und Beziehungen. Eingebettet in die aktuelle Forschung erzählt Alexandra Senffts Reise durch das Erinnern, wie das Schweigen zur Last wird. Ihr Buch stellt unbequeme Fragen gegen das Verdrängen: Weshalb wurden Täter in Opfer verkehrt, welche Rollen spielen Schuld und Scham - und gibt es so etwas wie Gerechtigkeit? Sensibel und klug zeigt dieses Buch den Nachkommen der Kriegsgeneration Wege, sich auf heilsame Weise mit ihrem Erbe auseinanderzusetzen - und macht das Erinnern zum Auftrag in der Gegenwart für die Zukunft.
Alexandra Senfft ist Islamwissenschaftlerin und Publizistin. Ihre Themenschwerpunkte sind die transgenerationellen Folgen des Nationalsozialismus und der Dialog mit den Opfern und ihren Nachkommen, Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit, der Nahostkonflikt sowie das Spannungsverhältnis Deutsche - Juden - Israelis - Palästinenser.
Autorentext
Alexandra Senfft ist Islamwissenschaftlerin und Publizistin. Ihre Themenschwerpunkte sind die transgenerationellen Folgen des Nationalsozialismus und der Dialog mit den Opfern und ihren Nachkommen, Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit, der Nahostkonflikt sowie das Spannungsverhältnis Deutsche - Juden - Israelis - Palästinenser.
Leseprobe
Hitzefrei für einen Angeklagten
»In den sechs Jahrzehnten seit den Nürnberger Prozessen sind weitere Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen worden, darunter auch Völkermord. Die Menschenrechte wahren sich nicht selbst. Sie bedürfen ständiger Pflege. Die Fortführung von Prozessen gegen Naziverbrecher, bis zum letzten Greis unter ihnen, muss in erster Linie als Warnhinweis für künftige Kriegsverbrecher dienen, der ihnen sagt: Bis zu deinem letzten Atemzug kannst du dich auf der Anklagebank wiederfinden.«
TOM SEGEV[*]
Bahnhof Lüneburg, 2. Juli 2015, halb sechs Uhr morgens. »Ritterakademie im Graalswall, bitte«, sage ich zum Taxifahrer. »Graalswall? Das gibt es hier nicht«, behauptet er, während er mit seiner Taxe bereits eine Richtung eingeschlagen hat. Ich krame die Adresse aus meiner Handtasche und korrigiere: »Am Graalwall ohne s! - wo der NS-Prozess stattfindet.« Der Taxifahrer, der mich von Anfang an verstanden hat, murmelt abweisend »Ach so« und fährt mit grantiger Miene schweigend durch die noch schlafende, von frühmorgendlichen Sonnenstrahlen durchflutete Hansestadt. Am Graalwall angekommen, wartet meine Freundin Susanne Hetzer, »Susi« genannt, bereits vor dem Eingang der Ritterakademie. Sie sitzt auf dem Bürgersteig und liest Harry Mulischs Reportage über den Jerusalemer Prozess von 1961 gegen Adolf Eichmann, den Leiter des Judenreferats im Reichssicherheitshauptamt.
In Lüneburg steht seit dem 21. April 2015 der 94-jährige Oskar Gröning vor Gericht. Die Anklage: Beihilfe zur Ermordung von 300 000 Juden im Sommer 1944 in Auschwitz. Gröning, der nach der Mittleren Reife eine Banklehre gemacht hatte, meldete sich 1940 mit 19 Jahren voller Begeisterung für die »zackige« Truppe freiwillig als Zahlmeister bei der Waffen-SS. 1942 wurde er nach Auschwitz versetzt. Dort arbeitete er in der »Häftlingsgeldverwaltung«, sortierte die verschiedenen Währungen der beraubten Juden und leitete das Geld anschließend an das SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt in Berlin weiter. Der junge Mann war auch an der Selektionsrampe eingeteilt: Er sollte dort das Gepäck der aus den Viehwaggons gezerrten Juden bewachen und für den »geordneten Ablauf« des faschistischen Mordprogramms sorgen. Allein im Rahmen der »Ungarn-Aktion« waren 437 402 Juden nach Auschwitz deportiert und sofort nach der Ankunft selektiert worden - hier zum sofortigen Tod in der Gaskammer, dort zum langsamen Tod durch Zwangsarbeit.
Es gab jedoch einen Zwischenfall, der Grönings Sinn für Ordnung erheblich störte: Einer seiner SS-Kameraden zertrümmerte vor seinen Augen den Schädel eines schreienden Babys, indem er es an den Beinen packte und gegen die Planke eines Lastwagens schleuderte. Erschüttert habe Gröning angeblich um Versetzung gebeten, mehrmals sogar, doch ohne Erfolg, sagt er später aus. So blieb er insgesamt zwei Jahre in Auschwitz und wirkte durch seine Tätigkeiten unter anderem daran mit, dass von Mai bis Juli 1944 etwa 300 000 der jüdischen Ungarn in der Gaskammer durch Zyklon B starben.
Waren es Schuldgefühle, die Gröning später dazu veranlassten, seine Erinnerungen an diese Zeit für seine Söhne aufzuschreiben? War es die Suche nach Erlösung oder gar Hoffnung auf Vergebung, die ihn 2005 im Alter von 83 Jahren sogar öffentlich über Auschwitz reden ließ? Die Journalisten, mit denen Gröning sprach, bekamen jedenfalls den Eindruck, dass er nach Entlastung suchte. Den Spiegel-Autor Matthias Geyer ließ der ehemalige SS-Mann wissen, dass er die Vergasung der Juden damals als ein legitimes Mittel der Kriegsführung hingenommen habe. In Auschwitz habe es für ihn ein »ganz normales Leben« gegeben - Alkohol, Sport und Gesellschaftsspiele in der Freizeit. Auf Geyers Frage nach seiner persönlichen Verantwortung antwortete er: »Schuld hängt eigentlich immer mit Taten zusammen, und da ich meine, ein nicht tätiger Schuldiger geworden
Inhalt
Vorwort
Hitzefrei für einen Angeklagten
Jeder hat eine Wahl
Die familiäre NS-Geschichte zwischen Verdrängung, vorsichtiger Annäherung und radikaler Aufklärung
Auf den Spuren des Krieges: Paula Albrechts Weg zu Achtsamkeit und Mitgefühl
Quentin van der Veer: Heilung kommt durch Akzeptanz, nicht durch den Schlussstrich
Fast zwanghaft alles aufdecken - Barbara Fenner und die große Klappe
Die Schattenseiten sind in uns - Wolfgang Wagner kämpft gegen Pietismus und Perfektionsanspruch
Neugierig bis zum Schluss: Ute Schenk und ihre Schwester Ulla Malterer
Sich nie ducken und authentisch bleiben: Hanns Johann Scheringers Weg vom Landwirt zum Politiker
Ein Vorname als Lebensprogramm: Freimut Duve
Stefan Ochaba: Ich bin kein Kriegsenkel, ich bin ein Nazi-Enkel!
Demut vor dem Leben. Eine Reise nach Auschwitz und warum es wichtig ist, zu lachen
Dank
Weiterführende Literatur
Anmerkungen