Am 18. Januar 2023 erscheint Ihr neuer Roman «In einer dunkelblauen Stunde». Können Sie kurz zusammenfassen, worum es in der Geschichte geht?
Zwei junge Filmemacher wollten einen Film darüber drehen, wie ich ein Buch schreibe. Also entschloss ich mich, ein Buch zu schreiben über zwei Filmemacher, die einen Film über einen Schriftsteller machen, der ein Buch schreibt. Allerdings langweilte mich der Schriftsteller nach einer Weile, also liess ich ihn an einer Krankheit sterben. Von da an wurde es richtig spannend, vor allem, als auch noch eine heimliche Geliebte des Schriftstellers ins Spiel kam. Die wird dann, neben der Filmemacherin Andrea, zur Hauptfigur des Buches.
Was ist die Kernfrage oder das Kernthema, um das sich «In einer dunkelblauen Stunde» dreht? Und was hat Sie dazu bewogen, gerade dieses Thema in einem Roman zu verarbeiten?
Ich schreibe keine Bücher «über» etwas, ich erzähle einfach Geschichten, die hoffentlich mehr sind als einfache Geschichten. Worum es in einem Buch wirklich geht, merke ich oft erst, wenn ich auf Lesereise gehe und mit Leuten darüber spreche. Aber ich denke, auch in diesem geht es, wie in allen meinen Büchern, um Liebe, das Leben und den Tod, um das Vergehen und das Anhalten von Zeit, um Erinnerungen und Fantasien.
Schreiben ist eine Beschäftigung, die Sie nie langweilt und immer herausfordert, so Ihre Worte. Was war die Herausforderung, die «In einer dunkelblauen Stunde» Ihnen gestellt hat? Was fasziniert Sie an der Geschichte besonders?
Es war spannend, meine Hauptfigur schon nach dem ersten Drittel des Buches zu verlieren. Ich schaffe mir selbst gerne Hindernisse und schaue dann, wie ich mit ihnen umgehen kann. Eine Geschichte zu schreiben, von der ich schon weiss, wie sie endet, würde mich zu Tode langweilen. Später im Buch gibt es noch einen Bruch. Am meisten fasziniert hat mich aber wohl Andrea, eine der Filmemacherinnen, die eine sehr originelle und witzige Person ist. Ich wollte schon immer mal ein Buch mit mehr Humor schreiben, ich hoffe, das ist mir dank Andrea gelungen.
In dem Roman sucht die Dokumentarfilmerin Andrea in den Büchern des Schriftstellers Wechsler nach Hinweisen auf dessen wahres Privatleben. Sind solche Spuren auch in Ihren eigenen Werken zu finden?
Autobiographisch zu schreiben hat mich nie interessiert. Aber natürlich steckt ganz viel von mir in meinen Büchern, allerdings weniger in der Handlung als darin, wie meine Figuren die Welt wahrnehmen, was für Haltungen sie haben, welche Themen sie beschäftigen. Wäre ich ein anderer, würde ich andere Bücher schreiben. Ich würde behaupten, in Andrea steckt mindestens so viel von mir wie in Richard Wechsler, obwohl sie eine Frau ist und zwanzig Jahre jünger als ich. Was Wechsler über das Schreiben sagt, würde ich allerdings zum grössten Teil unterschreiben. Und natürlich ist das Ganze auch ein Spiel. Wechsler kommt aus meinem Dorf, hat einige meiner Bücher geschrieben und ist ungefähr in meinem Alter, da darf ich mich nicht beklagen, wenn Leser*innen mich mit ihm gleichsetzen. Aber ich bin nicht Wechsler.
1990 haben Sie Ihr Psychologiestudium abgebrochen, um sich ganz auf das Schreiben zu konzentrieren. Ihr erstes Buch wurde allerdings erst acht Jahre später veröffentlicht. Was hat Sie davon abgehalten, aufzugeben?
Ich glaube, die Freude am Schreiben. Mit Erfolg konnte ich ja irgendwann nicht mehr rechnen, also habe ich einfach genau die Bücher geschrieben, die ich schreiben wollte, die mir Spass machten, die ich selbst gerne gelesen hätte. Und in den acht Jahren habe ich auch etliche Hörspiele geschrieben, die ausgestrahlt wurden, und ganz viele Satiren und journalistische Texte. Ich habe mich in der Zeit nicht gelangweilt und war auch nicht faul.
Nebst Romanen haben Sie auch zahlreiche Hörspiele und Theaterstücke verfasst und waren über viele Jahre als Journalist tätig. Welche Art des Textens reizt Sie am meisten?
Prosa ist schon meine Lieblingsdisziplin und zwar sowohl Romane als auch Erzählungen. Aber es macht auch Spass und tut gut, gelegentlich etwas Neues auszuprobieren, etwas anderes zu machen. Letztes Jahr schrieb ich das Libretto für eine Oper, jetzt arbeite ich an einem zweiten. Und 2023 erscheinen im Carlsen Verlag zwei Erstleserbücher für Kinder, die gerade Lesen lernen. Auch das hat sehr viel Spass gemacht.
Inzwischen sind Sie seit über dreissig Jahren als freier Autor tätig. Wie hat sich der Schweizer Buchmarkt verändert?
Ich habe den Eindruck, dass sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit heute auf wenige, erfolgreiche Bücher konzentriert. Es gibt viel weniger Kritiken in Zeitungen, heute muss man froh sein, wenn ein Buch überhaupt besprochen wird. Und dieselbe Kritik erscheint dann in zehn verschiedenen Zeitungen. Also gibt es viel weniger unterschiedliche Stimmen zu einem Buch. Ausserdem sind Bücher in den letzten dreissig Jahren praktisch gleich teuer geblieben, während alles andere teurer wurde. Agnes kostete 1998 CHF 32.–, mein neuer Roman, der hundert Seiten dicker ist, wird CHF 36.– kosten. Vom Schreiben zu leben ist noch schwieriger geworden, gerade auch für Junge, die erst am Anfang stehen.
Am selben Tag, an dem «In einer dunkelblauen Stunde» erscheint, feiern Sie Ihren 60. Geburtstag. Verraten Sie uns einen besonderen Höhepunkt Ihres Lebens, an den Sie sich gerne zurückerinnern.
Oh, das sind unzählige. Gar nichts Grossartiges, einfach Momente mit Menschen, die ich liebe, an schönen Orten. Aber auch Momente, die ich alleine verbringe im Wald, in den Bergen, im Wasser. Je älter ich werde, desto schöner und wunderbarer und faszinierender finde ich die Welt. Natürlich gibt es auch Schlimmes, Trauriges, aber das Positive überwiegt meiner Meinung nach. Gertrude Stein hat gesagt: «Jedes Leben, das man betrachtet, scheint unglücklich. Aber jedes gelebte Leben ist ziemlich heiter, und was auch geschieht, das wird immer so sein.» Ich glaube, sie hat nicht unrecht. Die meisten Menschen haben die Fähigkeit, selbst unter schwierigsten und schlimmsten Umständen immer wieder Glück zu empfinden.
Nach längeren Auslandaufenthalten, unter anderem in Paris, New York und Berlin, leben Sie heute in Winterthur. Was hat Sie zurück in die Schweiz gezogen?
Ich habe auch ein paar Jahre in Zürich gelebt, aber Winterthur entspricht mir eher. Die Stadt hat eine gute Grösse, die Leute sind entspannt und tolerant, die Natur ist ganz nah. Auch die Industriekultur der Stadt gefällt mir. Winterthur ist eine Stadt der Erfinder, der Macher. Und da ich viel auf Reisen bin, kriege ich den Rest der Welt ja immer noch mit. Aber ich komme immer wieder gerne nach Winterthur zurück.
Wohin zieht es Sie, wenn Sie auf der Suche nach Inspiration sind?
Ich lebe nur wenige Minuten von einem riesigen Wald. Da gehe ich spazieren, wenn ich beim Schreiben nicht weiterkomme. Also fast jeden Tag einmal. Im weiteren Sinn inspirierend mich aber auch Bücher, Kunstausstellungen, Filme und einfach das tägliche Leben, Reisen, Begegnungen mit Menschen.
Bevorzugen Sie selbst E-Books oder ein physisches Buch zum Lesen?
Ich lese viel lieber auf Papier. Aber die Zeitung lese ich inzwischen auf dem Computer. Das ist praktischer und spart eine Menge Papier. E-Books lese ich selten, aber ich habe nichts gegen sie. Sie scheinen sich ja auch nicht wirklich durchzusetzen. Bei meinen Verkäufen machen sie weniger als 10% aus.
Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen? Würden Sie es weiterempfehlen?
«Gesund genug» von Ursula Fricker, ein autofiktionales Buch über das Sterben eines Vaters, der mit seinem Gesundheitswahn jahrelang seine Familie terrorisiert hat. Ich habe das Buch parallel zu «Der Platz» von Annie Ernaux gelesen, in dem es ebenfalls um das Sterben eines Vaters geht. Die Bücher haben erstaunlich viele Ähnlichkeiten und ich habe beide sehr gern gelesen. Als nächstes lese ich wohl «Propofol» von Corinna T. Sievers, einer Autorin, die den Mut hat, über ziemlich unsympathische Menschen zu schreiben, die wir doch alle kennen oder in denen wir uns erkennen.