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'Lord Jim' gilt bis heute als Meisterwerk des modernen weltanschaulichen-psychologischen Romans und der Seefahrer und Abenteuerliteratur Jim ist Offizier bei der englischen Handelsmarine und ein romantischer Idealist. Doch in einer entscheidenen Situation versagt er. Als das Pilgerschiff 'Patna', auf dem er angeheuert hat, im Roten Meer leck schlägt, flüchtet er sich zusammen mit dem Kapitän und weiteren Besatzungsmitgliedern auf ein Rettungsboot und überlässt die schlafenden Passagiere ihrem Schicksal. Doch das Schiff sinkt nicht, Lord Jim muss sich vor Gericht verantworten und verliert sein Offizierspatent. Doch das Schicksal hält eine zweite Chance für ihn bereit. Nach der langen Flucht vor seiner Vergangenheit bekommt Jim schließlich eine Anstellung als Handelsvertreter in der Urwaldsiedlung Patusan, dort soll er die Eingeborenen vor den Angriffen der Araber beschützen. Doch eines Tages bricht eine Piratenhorde in die geschützte Welt Patusans ein, und Jim muss wieder eine Entscheidung treffen.
Joseph Conrad, geboren am 3. Dezember 1857 als Józef Teodor Konrad Korzeniowski bei Berchitschew/Ukraine, gestorben am 3. August 1924 in Kent. Unter russischer Herrschaft geboren, mit Polnisch als Muttersprache und Französisch als Umgangssprache aufgewachsen, wurde er Kapitän der Britischen Handelsmarine und ein englischer Erzähler von Weltrang.
Autorentext
Joseph Conrad, geboren am 3. Dezember 1857 als Józef Teodor Konrad Korzeniowski bei Berchitschew/Ukraine, gestorben am 3. August 1924 in Kent. Unter russischer Herrschaft geboren, mit Polnisch als Muttersprache und Französisch als Umgangssprache aufgewachsen, wurde er Kapitän der Britischen Handelsmarine und ein englischer Erzähler von Weltrang.
Leseprobe
Erstes Kapitel
E R maß vielleicht ein, zwei Zoll weniger als sechs Fuß, besaß eine kräftige Statur und kam mit leicht vorgeneigten Schultern, vorgestrecktem Kopf und einem starren Blick aus gesenkten Augen, der an einen angreifenden Stier erinnerte, geradewegs auf einen zu. Seine Stimme war tief und laut, und die Art seines Auftretens zeugte von unbeugsamer Selbstbehauptung, die nichts Aggressives hatte. Sie schien eine Notwendigkeit und richtete sich offenbar ebenso sehr gegen ihn selbst wie gegen alle anderen. Er war makellos sauber, vom Hut bis zu den Schuhen in fleckenloses Weiß gekleidet, und in den vielen Häfen des Ostens, in denen er sich den Lebensunterhalt als Hafen-Kommis für Schiffsausrüster[5] verdiente, war er sehr beliebt.
Ein solcher Hafen-Kommis braucht keine Prüfung in irgendeinem Fach abzulegen, aber einerseits muß er über die Fähigkeit verfügen, abstrakt zu denken, andererseits seine Gedanken praktisch umsetzen können. Seine Arbeit besteht darin, mit Segel, Dampf oder Ruder alle konkurrierenden Anwerber bei jedem Schiff, das gerade vor Anker geht, aus dem Rennen zu schlagen, gutgelaunt dessen Kapitän zu begrüßen, ihm eine Karte aufzudrängen - die Geschäftskarte des Schiffsausrüsters - und ihn auf seinem ersten Besuch an Land ebenso zielsicher wie unaufdringlich zu einem riesigen, höhlenartigen Laden zu lotsen, der alles enthielt, was an Bord eines Schiffes gegessen und getrunken wird, und wo man alles bekommen kann, was ein Schiff seetüchtig macht und schön - angefangen von einem Satz Haken für die Ankerkette bis hin zu einem Heft Blattgold für die Schnitzereien am Heck - und wo der Kapitän von einem Schiffsausrüster, den er noch nie zuvor gesehen hat, wie ein Bruder willkommen geheißen wird. Es gibt da ein kühles Empfangszimmer, Armsessel, Flaschen, Zigarren, Schreibzeug, eine Kopie der Hafenvorschriften und einen so herzlichen Willkomm, daß einem Seemann das Salz einer dreimonatigen Fahrt aus der Seele schmilzt. Die derart geknüpfte Verbindung wird durch die täglichen Besuche des Hafen-Kommis aufrechterhalten, solange das Schiff im Hafen liegt. Dem Kapitän gegenüber ist er treu wie ein Freund und aufmerksam wie ein Sohn, er ist geduldig wie Hiob, selbstlos ergeben wie eine Frau und fröhlich wie ein Zechkumpan. Später dann wird die Rechnung zugeschickt. Es ist ein wunderschöner und zutiefst menschenfreundlicher Beruf. Deshalb ist ein guter Hafen-Kommis eine Seltenheit. Wenn ein Hafen-Kommis über die Fähigkeit der Abstraktion verfügt und dazu noch den Vorzug besitzt, auf See aufgewachsen zu sein, dann ist er seinem Brotgeber eine Stange Geld und ein gutes Stück Nachsicht wert. Jim hatte immer reichlich verdient und reichlich Nachsicht genossen - so reichlich, daß man damit die Treue eines Höllenfürsten hätte erkaufen können. Nichtsdestoweniger schmiß er die Arbeit manchmal in schwarzer Undankbarkeit hin und ging auf und davon. Seinen Brotgebern erschienen die Gründe, die er anführte, offenbar unzureichend. Sobald er ihnen den Rücken kehrte, sagten sie: »Verdammter Narr!« - und das war ihre Art, seine Überempfindlichkeit zu tadeln.
Für die im Hafengeschäft tätigen Weißen und für die Schiffskapitäne war er einfach Jim - mehr nicht. Er hatte natürlich noch einen anderen Namen, er war aber ängstlich darauf bedacht, daß keiner ihn nannte. Sein Inkognito, löchrig wie ein Sieb, sollte keine Person verbergen, sondern ein Faktum. Wenn dieses Faktum sein Inkognito lüftete, verließ er auf der Stelle den Hafen, in dem er sich gerade aufhielt, und zog in den nächsten - gewöhnlich weiter östlich gelegenen. Es mußten Seehäfen sein, denn er war ein von der See ins Exil geschickter Seemann und besaß die Fähigkeit der Abstraktion, die für keine andere Arbeit taugt als die eines Hafen-Kommis. Er trat den geordneten Rückzug an, in Richtung aufgehender Sonne, und das Faktum folgte ihm ebenso beiläufig wie unabänderlich auf dem Fuß. So lernte man ihn im Laufe de