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Das Buch 'Erlebte Musik' ist der großen, allzeit lebendigen Musik gewidmet - und all jenen, die sie erschaffen haben und zum Leben erwecken. Die hier behandelten Werke reichen von Johann Sebastians Bach h-Moll Messe, über Mozarts 'Don Giovanni' bis zu Strawinskys 'Psalmen-Symphonie'. Wie Joachim Kaiser sagte: 'Musik ist nie neutral. Jedes Werk hat oder birgt Geheimnisse, die ihm entrissen werden können.'
Joachim Kaiser, geboren 1928 in Milken/Ostpreußen, studierte Musikwissenschaften, Germanistik, Philosophie und Soziologie. Er war lange Zeit Kulturkritiker bei der Süddeutschen Zeitung in München und Professor an der Hochschule für Musik und darstellende Künste in Stuttgart. Joachim Kaiser verstarb 2017.
Das Buch »Erlebte Musik« ist der großen, allzeit lebendigen Musik gewidmet - und all jenen, die sie erschaffen haben und zum Leben erwecken. Die hier behandelten Werke reichen von Johann Sebastians Bach h-Moll Messe, über Mozarts »Don Giovanni« bis zu Strawinskys »Psalmen-Symphonie«. Wie Joachim Kaiser sagte: »Musik ist nie neutral. Jedes Werk hat oder birgt Geheimnisse, die ihm entrissen werden können.«
Autorentext
Joachim Kaiser, geboren 1928 in Milken/Ostpreußen, studierte Musikwissenschaften, Germanistik, Philosophie und Soziologie. Er war lange Zeit Kulturkritiker bei der Süddeutschen Zeitung in München und Professor an der Hochschule für Musik und darstellende Künste in Stuttgart. Joachim Kaiser verstarb 2017.
Zusammenfassung
Das Buch »Erlebte Musik« ist der großen, allzeit lebendigen Musik gewidmet und all jenen, die sie erschaffen haben und zum Leben erwecken. Die hier behandelten Werke reichen von Johann Sebastians Bach h-Moll Messe, über Mozarts »Don Giovanni« bis zu Strawinskys »Psalmen-Symphonie«. Wie Joachim Kaiser sagte: »Musik ist nie neutral. Jedes Werk hat oder birgt Geheimnisse, die ihm entrissen werden können.«
Leseprobe
Was die Musik einem sein kann
Ganz privates Vorwort
Bei uns zu Hause wurde viel musiziert. Mein Vater war Arzt, und er wäre wohl lieber noch Geiger geworden, dann allerdings freilich auch gleich richtig Solist, hübsch interkontinental gefeiert, mit Allüren und großen Gagen. Aber während seines Medizinstudiums hatte er berühmte Lehrer in Berlin und Königsberg konsultiert; die hatten ihn angehört, seinen (übrigens wirklich) fabelhaft kräftigen, temperamentvollen Ton gelobt, seine (übrigens im Alter schlimm hervortretende) Tendenz zur Unsauberkeit bedauert, ein paar kaum mehr korrigierbare Fehler festgestellt - und ihm abgeraten. Das hatte er sich gesagt sein lassen.
Doch eine Wunde blieb. Manchmal, wenn wir aus Konzerten mittelmäßiger Geiger nach Hause fuhren, dann brach es aus ihm heraus, wie schlecht der Solist gewesen sei und wie ganz anders dieses Stück gespielt werden müsse - regelmäßiges Üben vorausgesetzt. Wenn freilich ein großer Virtuose aufgetreten war, spürte ich meinem Vater nicht etwa Neid, sondern Erleichterung an. Er wußte wohl, daß er auch mit viel Fleiß den letzten Satz des Brahms-Konzerts, die Flageolett-Hürden aus dem Tschaikowsky-Konzert oder gewisse Paganini-Unannehmlichkeiten niemals podiumssicher geschafft hätte. Dann war er froh, nicht als gescheiterter Musiker irgendwo die zweite Geige zu spielen.
Also: ein Mediziner mit musikalischen Neigungen. Er hatte als Landarzt im masurischen Milken zu praktizieren begonnen. 1933 zog er nach Tilsit, wo einige Arztstellen - »Praxen« - frei geworden waren. Kluge jüdische Ärzte nämlich, die nicht glauben wollten, der NS-Spuk gehe schnell vorüber, emigrierten zu ihrem Heil schon damals. Für ihre jungen »arischen« Kollegen war das natürlich eine Chance, so sehr man die Weggezogenen (die Vertriebenen) auch bedauerte - als Freunde, als Kammermusikpartner, als Akademiker, denen so was zustieß. Jüngere können sich heute kaum mehr vorstellen, mit welch selbstverständlichem Ehrfurchtstremolo das Zauberwort »Akademiker« vor gar nicht allzu langer Zeit ausgesprochen wurde, von Akademikern und Nicht-Akademikern.
Tilsit. Dreißig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verwechselt die Enkel-Generation es bereits mit Tiflis. Muß, etwa von München aus gesehen, auch irgendwo weit hinten im Osten sein. Tilsit war eine Mittelstadt. 60 000 Einwohner. Gelegen an der nordöstlichen Grenze des »Reiches«, was man damals freilich ohne Anführungszeichen schrieb, sagte, dachte. Indirekt klingt Tilsit in der Nationalhymne mit: »... bis an die Memel.« Denn Tilsits Fluß war ja die Memel. Die Zeitung hieß Memelwacht. Der Musikverein veranstaltete Konzerte. Wenn der Karl Erb, der Heinrich Schlusnus, die Lore Fischer kamen, dann freute man sich lang und herzlich darauf. Erb kam übrigens mit einem jungen Begleiter namens Ferdinand Leitner, der während des Liederabends auch ein Solostück spielen durfte und mit dem der berühmte Tenor einmal so laut im Künstlerzimmer herumschrie, daß später die ganze Stadt darüber wisperte. Der Musikvereinsvorsitzende hatte den Auftritt (es ging um Geld, nicht um Kunst) nämlich erschauernd mitangehört und ein bißchen weitererzählt.
Edwin Fischer wurde Jahr für Jahr bewundert, Kempff hatte eine erlauchte Gemeinde von schönen, adligen Damen. Viel später lernte ich die diesbezügliche Aufklärungs-Terminologie kennen. Das seien die Frauen der Junker gewesen. Mit meiner Erinnerung an die freundlichen, vielleicht oberflächlichen, enthusiastisch kunstinteressierten, vielleicht nicht allzu kunst-»verständigen« Menschen, in deren Namen ein »von« vorkam, hat diese spätere, demokratische und soziologische Belehrung über ostelbisches »Junkertum« wenig zu tun. Möglicherweise sieht man dergleichen als Kind, als junger Pennäler nicht. Ich müßte mir meine Erinnerung umlügen, müßte sie antifeudal mystifizieren, wenn ich irgendeine Schreckens-Reminiszenz vorbringen wollte. Schrecken und Angst verbanden sich dama