habent sua fata libelli sagen Lateiner. Zu Deutsch heißt es nichts anderes, als dass Bücher ihre Schicksale haben. Auf den Patenjäger (1. Auflage 1975) bezogen passt das wie die berüchtigte Faust aufs Auge. Ich erinnere mich noch genau: Zu Beginn der Siebziger starteten SED und FDJ eine ideologische Offensive in der Art, dass sozusagen ein Staffelstab von den alten Genossen über die mittlere Generation hin zur Jugendorganisation und den Thälmann Pionieren weiter gereicht werden sollte. Schlüsselwort war die Patensuche. Paten in jeder Beziehung. Über ehrenamtliche ideologische Betreuung sollte quasi der Sieg des Sozialismus vorbereitet und letztlich zementiert werden. Schaltstellen dieser Bewegung befanden sich vornehmlich im Zentralrat, dem leitenden Organ der FDJ. Dort saßen überalterte Berufsjugendliche beiderlei Geschlechts, die sich nicht nur durch erhöhten Zigarettenkonsum auszeichneten. Als Bundesgenossen im Kampf um Herz und Hirn der Heranwachsenden hatte jene sich die Schriftsteller ausgeguckt. Wir waren aufgerufen, mittels Geschichten in neuen Büchern den Vorgang zu begleiten bzw. zu intensivieren. Also schickte man dem auserwählten Künstler ein Auto, fuhr ihn in die Pionierrepublik am Werbellinsee und agitierte ihn mit drögen Vorstellungen in stundenlangen Vorträgen. Dieses geschah in einem Maße, dass über kurz oder lang selbst dem Willigsten unter den herbeigekarrten Schreibern der letzte Rest schöpferischen Elans verloren gehen musste. Salopp gesagt - ich machte mich sobald es ging vom Acker und schrieb meine Story mit dem Titel Patenjäger. Unbeeinflusst von Politikastern jedweden Couleurs wurden in meinem Buch sowohl die alten und jüngeren Genossen, die FDJler und Schüler zu Menschen aus Fleisch und Blut. Die ins Auge gefassten sogenannten Paten nicht ausgenommen. Es waren Menschen mit Fehlern und Vorzügen. Da organisiert unter anderem ein FDJ-Sekretär eine Arbeitsniederlegung, weil der Betrieb die neunte Klasse während des Unterrichtstages in der Produktion (UTP) sträflich unterfordert, ein Lehrer glaubt ständig auf der Hut sein zu müssen wegen der renitenten Schulklasse und ein Maler verweigert anfangs seine Rolle als Pate, weil er statt parteilicher Kunst sich an die Natur als Motivation für sein künstlerisches Schaffen hält ... Gewisse Leute schlussfolgern jetzt messerscharf, dass seinerzeit ein derartiges Buch in der von SED-Ideologie und der Diktatur des Proletariats geprägten DDR selbstredend nicht zum Druck zugelassen worden war - aber dank meiner Paten sprich erfahrene Lektorin und politikbewusster Verlagsleiter erschien es bis 1984 in sechs Auflagen ...
Autorentext
Hans-Ulrich Lüdemann (Pseudonym John U. Brownman mit Co-Autor Hans Bräunlich) wurde am 4. Oktober 1943 in Greifswald geboren. Nach dem Abitur folgte ein Studium der Sportwissenschaften, Psychologie, Pädagogik und Germanistik an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität im vorpommerschen Greifswald. Von 1966 bis 1969 arbeitete er beim Verlag Junge Welt Berlin. Danach war er freischaffend tätig als Journalist, TV-Kameramann und Schriftsteller. 1977 erlitt Hans-Ulrich Lüdemann einen Unfall als Reservist während seiner NVA-Wehrpflicht, der ihn zeitlebens in den Rollstuhl zwingt. Er ist Autor von 20 Hörspielen für Kinder und Erwachsene, desgleichen sind 26 Buchtitel von ihm erschienen. Als wichtigstes Werk gilt sein autobiographisch geprägter Roman Der weiße Stuhl. Hans-Ulrich Lüdemann hat sich auch als Szenarist von TV-Filmen ausgewiesen. Schreiben ist für ihn Therapie. Seiner physischen und psychischen Stärkung dienten seit 1992 über zwei Dutzend Aufenthalte in Dänemark, Reisen nach San Francisco, Zypern, Toronto, Guernsey, Kapstadt, Florida, Dubai, Sydney und Singapur ... Glückliche Rollstuhl-Tage in Kalifornien fanden ihren Niederschlag in San Francisco and so on Happy Rolliday I. Ein Reise-Essay zu Südafrika trägt den Titel Kapstadt und so weiter Happy Rolliday II. Das dritte Buch über eine Reise im Oktober 2002 mit dem Titel Florida and so on Happy Rolliday III erschien Januar 2005. Ein viertes Reise-Essay Dubai-Sydney-Singapur und so weiter Happy Rolliday IV schloss 2005 die Reihe Happy Rolliday ab. Die Gesamtauflage seiner Bücher beträgt nahezu eine Million Exemplare. Mitgliedschaften: SV der DDR 1974, VS 1990; IG Medien 1990. 1973 Hörspielpreis des DDR-Rundfunks, 1977 Kunstpreis des DTSB, 1982 Preis für Kinder- und Jugendliteratur des Kulturministeriums der DDR.
Klappentext
Plötzlich ist da eine Textstelle, die aufhorchen lässt oder die zumindest beim ersten Erscheinen dieses Jugendbuches für Aufhorchen (und für Aufsehen) gesorgt haben dürfte. Ein Junge besucht einen alten Mann, um mit ihm zu erzählen. Er hat auch Bücher aus der Stadtbibliothek dabei, aber Großvater Kuddel, so heißt der 78-jährige Mann, will sie nicht lesen. "Was Neues?" "Die letzten, die ich noch nicht kenne", sagt Lute. "Soll ich eins hierlassen?" Großvater Kuddel schüttelt den Kopf. Seit langem hat er kein Buch gelesen. Schuld daran sind vor allem die Augen. Aber nicht nur. Kurt Assmann fühlt sich nämlich von einigen Schreibern hintergangen. Großvater Kuddel wurde regelrecht zornig beim Lesen. Viel ausgedachtes Zeug war dabei. Niemals im Leben geht alles so glatt seinen Gang, wie es in diesen Büchern steht. Alle Menschen sind im Sozialismus Brüder, war da zwischen den Zeilen zu lesen. Keine Sorgen, keine Tränen, kein Leid. Aber da braucht Großvater Kuddel nur an Lene Wiebke zu denken. Eines Tages geht die Mutter auf und davon. Lässt die Familie im Stich. Wenn das kein Leid ist für die Betroffenen. Oder der Vater eines Jungen, der bei seinem Enkel Knut in die Neunte geht. Stirbt an Fischvergiftung. Hatte die Arbeitsschutzbestimmungen nicht genügend beachtet bei der Fischverarbeitung. Es war ihm vielleicht auch unangenehm, wegen einer kleinen eitrigen Fingerverletzung Doktor Sonntag zu behelligen. Nichts von alledem in den Büchern, die Großvater Kuddel in die Ecke gelegt hat. Weil in ihnen nur die Sonne scheint. Kein Regen, kein Gewitter, wie es normal ist im Leben. Früher wie heute. Einen Unterschied lässt Großvater Kuddel gelten: Heute gerät niemand mehr in Not und Elend, es gibt nicht mehr viele Menschen bei uns, die andere ins Unglück stürzen können. Keiner darf das. Aber es gibt doch Ängste, Leid und Niederlagen für Kinder oder für Erwachsene. Kuddel Assmann möchte in den Büchern was von dem wiederfinden, wofür er gelebt hat. Wofür er einiges hat ausstehen müssen. Und da Lute ihm viel von dem erzählt, was in den Kinderbüchern steht, so will dem Alten scheinen, dass die Kleinen besser dran sind als die Großen mit ihrer Literatur. Es gibt jedoch auch Bücher, die Großvater Kuddel gerne liest. Schriftsteller wie Anna Seghers, Gotsche, Strittmatter, Kant und einige andere schätzt er, denn sie erzählen von dem wahren Leben. Aber Lute, sein junger Besucher, hat eigentlich ein anderes wichtiges Anliegen: Er möchte ihn zum Pioniernachmittag einladen.