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"Fortschritt" klingt nicht immer nach einer Entwicklung zum Besseren hin; er kann auch als Bedrohung erscheinen. Zwar benötigen wir wirtschaftliches Wachstum, um das Versprechen des "Wohlstands für alle" aufrechtzuerhalten, es hat aber auch Kehrseiten: Die Anpassung der Staaten an die Gesetze des Kapitals, eine immer schnellere Taktung von Entscheidungen und die Beschleunigung aller Lebensbereiche tragen zu einer Entsolidarisierung zwischen den Menschen bei. Matthias Machnig will Fortschritt neu erfinden, ihn wieder zu einem Hoffnungs- und Zukunftsprojekt machen. Dafür hat er in diesem Band Sozialwissenschaftler und Vertreter aus Verbänden und Politik eingeladen, Alternativen zur derzeitigen Gesellschaftspraxis zu entwerfen. Im Zentrum steht die Kritik am politischen System, insofern es dem Primat des Kapitals folgt.
Mit Beiträgen von: Sigmar Gabriel, Berthold Huber, Volker Hauff, Jochen Flassbarth, Ernst Ulrich von Weizsäcker, Michael Hartmann, Christoph Butterwegge, Stephan Lessenich, Claus Offe, Michael Vassiliadis und anderen.
Autorentext
Matthias Machnig ist seit 2009 thüringischer Wirtschaftsminister. Zuvor war er Staatssekretär im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, davor Staatssekretär im Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. Von 1999 bis 2002 war Machnig Bundesgeschäftsführer der SPD.
Leseprobe
Warum Neuer Fortschritt nötig und möglich ist Matthias Machnig Das alte Fortschrittsversprechen In der Bundesrepublik galt lange Zeit der Grundkonsens der Nachkriegszeit: Fortschritt und Wachstum sollen zu besseren Einkommen, guter Arbeit und mehr sozialer Sicherheit führen und Verteilungsgerechtigkeit ist ein Ziel der Politik. Darauf baute der Mythos der sozialen Marktwirtschaft und das Paradigma der bundesdeutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik auf. Die soziale Marktwirtschaft sollte für mehr Gerechtigkeit und Chancengleichheit sorgen. Sie sollte den Auf- und Ausbau eines Sozialstaats, der die Lebensrisiken der Menschen, nämlich Altersarmut, Krankheit, Arbeitsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit, absichern. Die soziale Marktwirtschaft sollte aber auch dafür sorgen, dass jede und jeder die Chance bekam, seinen individuellen Wohlstand auszubauen. Wohlstand für alle, wie es Ludwig Erhard in seinem 1957 erschienenen Buch noch propagierte, blieb lebensbiographisch für viele keine leere Phrase, sondern stand für ein Aufstiegsversprechen ganzer Generationen. Wer viel leistete, konnte auch viel erreichen: Die Anstrengungen in Schule und Ausbildung wurden beim Einstieg in das Berufsleben belohnt, wie auch die Lebensleistung im Alter nach langer Erwerbsbiographie und dem Eintritt ins Rentenalter. Mit dem Zuwachs gesellschaftlichen Wohlstands war auch ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum verbunden, das Beschäftigung sicherte, Einkommenszuwächse garantierte und Grundlage für die Kopplung des Sozialsystems an die Lohnarbeit war. Fortschritt bedeutete damals die Gewährleistung kontinuierlichen Wirtschaftswachstums bei gleichzeitiger Mehrung des individuellen Wohlstands, soziale Absicherung und ein Aufstiegsversprechen, das sich bei persönlicher Anstrengung und Leistung bezahlt machen sollte. Neoliberale Vorherrschaft Dieses Modell der sozialen Marktwirtschaft wurde Anfang der 1980er Jahre aufgekündigt. Amerikanische Managementlehren gewannen an Einfluss und die Wirtschaftswissenschaften wurden von einer Sozialwissenschaft zu einer Wissenschaft des Ökonomismus. Das deutsche Produktionsregime erodierte. Statt auf langfristige Investitionen setzten Unternehmen zunehmend auf kurzfristige Gewinne. Zugleich verstärkte sich ein Standortwettbewerb. Staaten konkurrieren zusehends um die niedrigsten Steuer- und Abgabequoten sowie geringe Marktregulierung zu Lasten von Faktoren wie gut ausgebildete Fachkräfte, eine hervorragend ausgebaute Infrastruktur, zukunftsweisende Investitionsförderung, eine enge Verzahnung von Wirtschaft mit Forschungs- und Entwicklungsclustern, ein leistungsfähiges Gesundheitssystem sowie soziale Absicherung und gute Arbeitsbedingungen und die damit einhergehende Motivation der Beschäftigten. In der globalisierten Gesellschaft setzten Unternehmen Staaten unter Druck durch die Androhung von Standortverlagerungen und Ausgliederungen und somit den Verlust von Steuereinnahmen und regionalen Arbeitsplätzen. Und es begann die Finanzialisierung des Kapitalismus mit einer enormen Zunahme an Finanztransaktionen (vgl. Machnig 2011). Spekulationen an den Finanzmärkten stiegen. Im Zeitraum zwischen 1980 und 2006 stieg das weltweite nominelle Finanzvermögen von 12 auf 167 Billionen Dollar an. Finanztransaktionen machen heute weltweit ein Volumen von mehr als 990 Billionen Euro aus, der außerbörsliche Handel mit Derivaten beträgt etwa 660 Billionen Euro. Das weltweite Bruttoinlandsprodukt (BIP) beträgt hingegen nur 63 Billionen. Diese Zahlen machen deutlich, wie sich der Finanzmarkt verselbständigt und von der Realwirtschaft gelöst hat. Unter dem Druck dieser Entwicklung wurde das bisherige Fortschrittsparadigma aufgekündigt. Damit gingen sozialer Ausgleich und makroökonomisches Denken verloren. Die Arbeitsmarktpolitik erfuhr einen tiefgreifenden Wandel, der betriebswirtschaftlich größere Spielräume ermöglichte, aber auch die Lebenswirklichkeit und in Folge dessen die Biographie vieler Beschäftigter veränderte. Das Normalarbeitsverhältnis wurde denunziert als System, das Wirtschaftswachstum verhindere und zugleich dem Anstieg der Arbeitslosigkeit Vorschub leiste. Flexibilisierung wurde zu einer neuen Zauberformel erklärt. Sozialpolitische Errungenschaften der Nachkriegsjahre, wie der Kündigungsschutz, die Altersabsicherung, die Tarifbindung, wohnortnahe Beschäftigung und betriebliche Mitbestimmung wurden immer weniger selbstverständlich. Stattdessen erfuhren viele Beschäftigte Reallohnverluste, gerade im letzten Jahrzehnt. Im Jahresdurchschnitt sind die Reallöhne in diesem Zeitraum um 0,3 Prozent gesunken. Es wurden höhere Flexibilitätsanforderungen an die Beschäftigten gestellt. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit verlängerte und ein Niedriglohnsektor entwickelte sich, der zunächst mit Scheinselbständigkeit befördert und zuletzt mit Minijobs etabliert wurde. Leiharbeit prägt mittlerweile ganze Geschäftsmodelle. Was einmal als Ausgleich von Auftragsspitzen gedacht war, setzt heute ganze Belegschaften unter Druck, hebelt den Kündigungsschutz aus, verhindert betriebliche Mitbestimmung und fördert die Möglichkeit eklatanter Lohnungleichheit in einem Betrieb (Vanselow 2007: 120 f.). Die Produktivität pro Arbeitsstunde hat sich seit 1990 zwar um mehr als zwei Drittel verbessert, gleichzeitig verlor aber die Arbeit an Wert. 2009 stiegen die Einkünfte der einkommensstärksten 20 Prozent derjenigen der einkommensschwächsten 20 Prozent um den Faktor 4,5. Vor zehn Jahren lag dieser Wert noch bei 3,5. Die Netto-Lohnquote (also das Arbeitseinkommen nach Steuern und Abgaben) lag 2010 bei 39,4 Prozent. Vor 1990 lag die Netto-Lohnquote jahrzehntelang auf einem Niveau über 50 Prozent. Dies alles wirkte sich zusehends auf die sozialen Sicherungssysteme aus, die im Wesentlichen auf Beiträgen aus Bruttolöhnen der Vollzeitbeschäftigten aufbaut (Möhring-Hesse 2008: 210). In der Folge wurde das Rentenniveau schrittweise gesenkt und private Alterssicherungsmodelle staatlich gefördert. Das freie Spiel des Marktes: Die Krise des Euro Finanzpolitik im Euroraum Fehlanzeige! Die gegenwärtige Euro-Krise besitzt einen Doppelcharakter. Sie ist nicht nur eine Krise als Folge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise. Sie ist auch eine institutionelle Krise des Euroraums. Die Entkopplung der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) von der Finanzpolitik der Mitgliedstaaten ist ohne eine steuernde europäische Institution, ohne eine Koordinierung der Finanz- und Lohnpolitiken der Mitgliedstaaten, nicht möglich. Die EZB hat die alleinige Aufgabe der Geldwertstabilität. Als Instrument steht i…