Lernen fürs 21. Jahrhundert: Von glücklichen Schülern, Lehrern und Eltern
Was ist das Wichtigste, das man in der Schule lernen kann? Fehler machen. Denn dann wächst das Gehirn. Erstklässler, die ihren ersten wissenschaftlichen Versuch mit Schokolade machen. Abiturienten, die 48 Stunden im Wald verbringen, um zu lernen, wie man Einsamkeit aushält. Siebtklässler, die überall im Land das gleiche Buch lesen, um auf Twitter darüber zu diskutieren. Und ein Schuldirektor, der jedes Kind morgens wie ein Gastgeber persönlich begrüßt. So geht Schule in Neuseeland, einem Land, das in Bildungsrankings ganz vorn abschneidet. Dieses Buch erzählt die Geschichte hinter den messbaren Zahlen. Es ist der berührende Bericht einer Mutter, die mit Mann und drei Töchtern in Neuseeland gelebt hat. Sie erzählt von Schulen, wo Lehrer zu zweit unterrichten, um voneinander zu lernen, wo Radierer verboten sind, weil man sich für Fehler nicht schämen muss, und wo der Direktor manchmal mit den Schülern im Lehrerzimmer tanzt. Sie erzählt von einem Bildungssystem, wo Wissenschaftler den Lehrern helfen, den Unterricht zu verbessern, und Bildungsentscheidungen niemals nur einer Mode folgen.
»Verena Friederike Hasel erzählt von Schulen, wo Lehrer zu zweit unterrichten, um voneinander zu lernen und wo Radierer verboten sind, weil man sich für Fehler nicht schämen muss.« Buchreport, 15. August 2019
Autorentext
Verena Friederike Hasel, geboren 1978 in Berlin, ist Psychologin, Drehbuchautorin und Journalistin. Sie war für den Theodor-Wolff-Preis nominiert und erhielt 2018 den Deutschen Reporterpreis. Bei Kein & Aber erschienen die Sachbücher Der tanzende Direktor, Eine Linie ist ein Punkt, der spazieren geht sowie Das krisenfeste Kind. Sie war Co-Initiatorin des #wirfürschule-Hackathon 2021. Mit ihrem Mann und ihren drei Töchtern lebt sie in Deutschland und Neuseeland.
Leseprobe
1 Verliebte Vulkane
Freitagmittag am anderen Ende der Welt. Ein Hügel, eine weite Wiese und kleine, blaue Holzhäuser. Es ist still, kein Mensch ist zu sehen. Die Wolken hängen wie Wattetupfer im Himmel, der Wind trägt den Geruch des Meeres herbei. Mit einem Mal öffnet sich eine Tür. Kinder kommen heraus. Alle sind barfuß. Manche hüpfen wie Gummibälle, andere schlurfen, als hätten sie Zentnerlasten am Bein, doch finden sie ein Tempo und laufen in Zweierreihen los. Eine weitere Tür wird aufgestoßen, viel Trappeln, Kichern, noch mehr Kinder. So geht es weiter, Türen öffnen sich, Kinder springen heraus, und in einer gemeinsamen Prozession steuern sie das größte Haus auf dem Hügel an. Dort setzen sie sich auf den Boden. Ein Mädchen flicht der Freundin Zöpfe, ein paar Kinder rollen ineinander verknäult hin und her. Plötzlich klatscht ein Lehrer einen Rhythmus, lang, kurz, kurz, lang, lang, und sofort sortieren sich die Kinder auseinander, stehen auf, sind für einen Moment still und beginnen zu singen. Das erste Lied handelt von einem Vulkan, der sich verliebt hat und solche Sehnsucht nach einem Leben über der Erde bekommt, dass seine Lava überfließt. Im zweiten Lied geht es um die Kinder selbst. Takarunga te maunga, Takarunga ist unser Berg. Waitemata te awa, Waitemata ist unser Fluss. Ko Takapuna te whenua, Takapuna ist unser Gebiet. Anei nga tamariki, o te kura o takararo, tena ra koutou katoa. Und hier sind die Kinder der Schule und sagen, dass ihr alle willkommen seid.
In Berlin, wo ich aufwuchs, war ich in meiner Kindheit manchmal auf einem Berg im Westen der Stadt, dessen Namen ich sehr aufregend fand. Teufelsberg. Im Herbst ließen die Kinder auf dem Teufelsberg ihre Drachen steigen, im Sommer kugelten sie seine Hänge hinunter, und wenn ich oben im Gras lag und in den Himmel schaute, fühlte ich mich ein wenig feierlich und erhaben, zumindest mehr als sonst in meiner Asphaltkindheit. Eines Tages erfuhr ich, dass unter dem Teufelsberg massenweise Weltkriegsschutt lagert und er nur entstanden war, weil man einen Ort gesucht hatte, an dem man die Trümmer der zerbombten Stadt abladen konnte. Als ich das nächste Mal auf der Wiese lag und nach dem feierlichen Gefühl suchte, wollte es sich nicht mehr so recht einstellen.
Das Lied vom verliebten Vulkan singen Kinder in einem kleinen Ort in Neuseeland, der Narrow Neck heißt. Narrow Neck ist der schmalste Teil einer Halbinsel, die gegenüber von Auckland liegt. Mit einer Fähre kann man hinfahren. Narrow Neck war einmal eine Sandbank, später Farmland, heute ist es ein Vorort Aucklands, doch fühlt man sich unendlich weit von der großen Stadt entfernt. Die Gegend ist voller Hügel. Sie bergen keinen Schutt, sondern hatten früher Magma unter sich. Das ganze Land liegt am Feuergürtel, der sich 40 000 Kilometer durch den Pazifik zieht, von Alaska bis hin zur Antarktis. Unter diesem Gürtel befindet sich die Bruchlinie der Erdplatten, die große Pazifische Kontinentalplatte stößt hier mit anderen Platten zusammen, deshalb gibt es in dieser Region mehr Erdbeben und Vulkane als sonst auf der Welt. Allein in und um Auckland wurden ungefähr fünfzig Vulkane gezählt. Und auch wenn sie inzwischen erloschen sind: Das vulkanische Feld, aus dem sie entstanden sind, ist immer noch aktiv, und theoretisch könnte jederzeit ein neuer Vulkan ausbrechen. Takarunga, den die Kinder in dem Lied als ihren Berg besingen, hat vor 20 000 Jahren Lava gespuckt, die Eruption eines anderen Vulkans ist erst 600 Jahre her. Damals ist eine bergige Insel im Meer entstanden. Rangitoto. Die Kinder sehen Rangitoto jeden Morgen, wenn sie den Strand entlang zur Schule laufen. Wenn sie oben auf dem Hügel angekommen sind, auf dem ihre Schule liegt, wartet dort schon ein Mann auf sie. An heißen Sommertagen trägt er einen Strohhut, im Winter, wenn es in Neuseeland oft in Strömen regnet, hält er sich einen Schirm über den Kopf. Es ist der Direktor der Schule. Morgens begrüßt er die Schüler, nachmittags verabschiedet er sie. Wie ein Gastgeber, bei dem Menschen ein und aus gehen, die ihm am Herzen liegen.
Als ich Mitte zwanzig war, habe ich mit zwei Freundinnen eine Weltreise gewonnen. Eines unserer Ziele war Neuseeland. Gleich am ersten Tag fuhren wir viel zu lang und weit und bauten unser Zelt erst spät am Abend auf. Wo wir genau waren, sahen wir nicht. Es war so dunkel, wie es in Europa niemals wird, dafür leuchteten um uns herum die Glühwürmchen. Am nächsten Morgen öffnete ich den Reißverschluss unseres Zelts, blickte in sattgrüne Baumfarne und beglückwünschte uns dazu, dass wir intuitiv den schönsten aller Plätze für unser Nachtlager ausgesucht hatten. Zwei Tage vergingen, dann hatte ich begriffen: In Neuseeland sieht alles so aus. Als ich ein paar Jahre später meinen Mann kennenlerne, erzähle ich ihm gleich an einem unserer ersten Abende von dieser Schönheit am anderen Ende der Welt. Eines Tages wir sind inzwischen verheiratet und haben drei Töchter beschließen wir, gemeinsam zu den Glühwürmchen zu fliegen und ein halbes Jahr dort zu leben, in einer Holzhütte, etwa hundert Meter vom Meer entfernt, mit Blick auf Rangitoto. Unsere achtjährige Tochter wird die Schule auf dem Hügel besuchen, ihre zwei jüngeren Schwestern einen kleinen Kindergarten. Ich freue mich auf Campingtrips, Wanderungen durch alte Wälder und Kajakfahrten. Vor dem Rest, dem Alltag, habe ich ein wenig Angst. Werden unsere Kinder, die kaum Englisch sprechen, zurechtkommen?
Und dann bringe ich meine Tochter das erste Mal in die Schule, erlebe den Empfang an der Straße und betrete die Aula, wo die Kinder das Lied vom verliebten Vulkan singen und für meine Tochter eine deutsche Fahne an der Wand hängt. Und ich beginne zu ahnen, dass ich in Neuseeland die Schönheit nicht nur in der Natur finden werde.
In den kommenden Monaten staune ich jeden Tag über diese Schule auf dem Hügel, in der die Englischlehrerin Zweitklässlern Gedichte von Ted Hughes vorliest und die Mathelehrerin den Unterricht an den Strand verlegt, um dort einen Tyrannosaurus Rex maßstabsgetreu in den Sand zu zeichnen, und so aus Mathe zus…