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In den meisten islamischen Ländern fanden - anders als in Europa - keine gezielten Ermordungen von Jüdinnen und Juden oder Deportationen in Todeslager statt. Dieser Band geht der Frage nach, wie Musliminnen und Muslime als scheinbar "Unbeteiligte" zum Holocaust stehen. Behandelt werden unter anderem die Teilnahme von Muslimen am Holocaustgedenken, die Wahrnehmung der Schoah im arabischen und türkischen Raum sowie unter muslimischen Jugendlichen und die wachsende Verwendung antisemitischer Parolen. Die Einstellungen von Muslimen zum Holocaust reichen von Mitgefühl und Anteilnahme über Gleichgültigkeit und die Frage "Was hat das mit uns zu tun?" bis zu Verharmlosung oder Leugnung. Wichtig ist es, so das Fazit, in der schulischen und außerschulischen Bildung umfassend über die Geschichte aufzuklären und dabei Perspektiven von Migrantinnen und Migranten stärker zu berücksichtigen. Mit Beiträgen von Joëlle Allouche-Benayoun, Rifat Bali, Georges Bensoussan, Mehmet Can, Monique Eckmann, Remco Ensel, Evelien Gans, Karoline Georg, Ruth Hatlapa, Günther Jikeli, Philip Spencer, Kim Robin Stoller, Annemarike Stremmelaar, Sara Valentina di Palma, Esther Webman, Juliane Wetzel und Michael Whine.
Autorentext
Günther Jikeli, Dr. phil., Historiker, ist Director des International Institute for Education and Research on Antisemitism in London sowie Fellow der Groupe Sociétés, Religions, Laïcités am CNRS in Paris. Kim Robin Stoller, M.A. in Europäischer Ethnologie und Gender Studies, ist Director des International Institute for Education and Research on Antisemitism in Berlin. Joëlle Allouche-Benayoun, Soziologin, ist Associate Professor und Mitarbeiterin der Groupe Sociétés, Religions, Laïcités am CNRS.
Leseprobe
Wahrnehmungen des Holocaust unter Muslim_innen in Europa Eine Hinführung und Kontextualisierung Günther Jikeli, Kim Robin Stoller und Joelle Allouche-Benayoun Die Wahrnehmung der systematischen Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden veränderte sich mit der Zeit. Heute wird sie meist als Holocaust oder Shoah bezeichnet. Wie an den Holocaust erinnert wird, was darunter verstanden wird und welche Konsequenzen daraus abgeleitet werden, ist nach wie vor politisch umkämpft. Es dauerte Jahrzehnte, bis die spezifische Dimension des deutschen Vernichtungsprojekts in Europa als Tatsache anerkannt wurde. Bestimmte erosive Effekte der Erinnerung und Wahrnehmung scheinen unaufhaltsam, bedingt durch die zeitliche Distanz und das Sterben von immer mehr Überlebenden des Holocaust. Hinzu kommt die Beeinflussung und oft Verzerrung der Wahrnehmungen des Holocaust durch soziokulturelle Werte, wie Alvin Rosenfeld in seinem Buch »The End of the Holocaust« (2011) zeigt. Die heutigen Erinnerungsnarrative über den Holocaust sind zudem abhängig vom Verhalten der jeweiligen Staaten während des Zweiten Weltkriegs und davon, welche Rolle große Teile der jeweiligen Bevölkerungen einnahmen: ob sie Täter_innen, Zuschauer_innen oder Opfer waren; ob die Länder mit den Nationalsozialist_innen in der Vernichtung der Jüdinnen und Juden kollaborierten oder ob sie gegen die Deutschen und ihre Verbündeten kämpften. Dasselbe gilt auf der Ebene der Individuen: Selbst entfernte Familienmitglieder, die auf die eine oder andere Weise am Zweiten Weltkrieg und an dem Vernichtungsprojekt partizipierten oder dessen Opfer wurden , können einen Einfluss darauf haben, ob und wie die Kinder und Enkel_innen über den Holocaust reflektieren und reden. Auf staatlicher Ebene spielt zudem Realpolitik eine entscheidende Rolle. Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust bildete beispielsweise eine zentrale Grundlage für die Rehabilitierung Deutschlands in der internationalen Staatengemeinschaft. Was aber bedeutet das für Muslim_innen in der Europäischen Union (EU), deren Vorfahren in den allermeisten Fällen erst nach dem Zweiten Weltkrieg nach Europa kamen? Wie verorten sich Muslim_innen in und außerhalb Europas gegenüber dem Holocaust? Macht es überhaupt Sinn, Ansichten zum Holocaust von doch so unterschiedlichen »Muslim_innen« untersuchen zu wollen? Oder mündet das in eine rassistisch gefärbte Pauschalisierung? Aus europäischer Perspektive zeigte sich in den letzten Jahren, dass Teile der muslimischen Bevölkerung die mühsam errungene und ohnehin schon oft problematische Erinnerung an den Holocaust abwehren und sich ihr entgegenstellen. In verschiedenen Ländern mehrten sich Berichte von Lehrkräften über antisemitische Äußerungen insbesondere muslimischer Schüler_innen bei der Behandlung des Themas Holocaust im Schulunterricht. Einige europäisch-muslimische Organisationen weigerten sich, an Holocaust-Gedenkveranstaltungen teilzunehmen, beziehungsweise, wie im Fall des Muslim Council of Britain, boykottierten diese explizit. Die Thematisierung solcher Sachverhalte kann aber selbst wiederum problematisch werden, wie Remco Ensel und Annemarike Stremmelaar in diesem Band am Beispiel der Niederlande ausführen. Und auch obszöne, antisemitische Äußerungen von europäischen Muslim_innen, in denen Verbindungen zum Holocaust hergestellt werden, wie »Hamas, Hamas, alle Juden ins Gas«, haben ihre Ursprünge in den postnazistischen Gesellschaften. Das behandelt Evelien Gans in ihrem Kapitel. Aber es scheint auch andere Ursachen zu haben. Ein Blick auf die Länder, aus denen viele der europäischen Muslim_innen bzw. ihre Eltern und Großeltern stammen, zeigt, dass dort äußerst problematische Ansichten zum Holocaust zum Mainstream gehören. Verbindungen entstehen durch familiäre Tradierungen, Medien und, wie sich zeigt, durch bestimmte Vorstellungen von Kollektividentitäten. Auch wenn davor zu warnen ist, Muslim_innen auf ihre religiöse Identität festzulegen oder gar auf diese zu reduzieren, ist diese doch auch in Europa für viele ein prägender Faktor. In der sozialpsychologischen Forschung ist seit Langem bekannt, dass Identifikationen mit Kollektividentitäten individuelle Einstellungen mitprägen (Hale 2004, Abrams/Hogg 1999). Es ist zu untersuchen, ob dies, zumindest bei einigen Muslim_innen, auch auf Ansichten zum Holocaust zutrifft. Um Einflussfaktoren und Hintergründe, die die Ansichten zum Holocaust unter Muslim_innen in Europa auf direkte oder indirekte Weise beeinflussen, und wie in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen in Europa damit umgegangen wird, geht es in diesem Buch.