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Historische Politikforschung
Über kaum ein gesellschaftliches Verhältnis wird so viel und so heftig gestritten wie über jenes zwischen Wirtschaft und Politik. Dies hat nicht zuletzt die jüngste Finanzkrise wieder belegt. Wie viele und welche politischen Eingriffe verträgt die Wirtschaft? Gibt es einen »Primat der Ökonomie« über die Politik? Wie lässt sich das richtige Verhältnis der beiden Bereiche zueinander festlegen? Das Buch unternimmt einen kritischen, historisch gesättigten Einblick in diesen Diskurs und zeigt, wie sich vom 19. Jahrhundert bis in die 1970er Jahre im Sprachgebrauch von Unternehmerverbänden und liberalen Ökonomen und Politikern ein Grundmuster der »begrenzten Abhängigkeit« von Wirtschaft und Politik herausbildete.
»Mit seiner Studie hat Stefan Scholl einen Grundstein gelegt für eine Diskursgeschichte des 20. Jahrhunderts. Statt vorauszusetzen, dass es sich bei Wirtschaft und Politik/Staat um zwei genuine Gegenstandsbereiche handelt, die spezifischen Eigengesetzlichkeiten folgen, spürt er den diskursiven Grenzkämpfen vom späten 18. bis ins späte 20. Jahrhundert nach.« Wencke Meteling, H-Soz-Kult, 26.05.2016 »Scholls Buch zeigt beispielhaft, was eine kulturgeschichtlich erweiterte Politikgeschichte leisten kann und erinnert zugleich den Leser daran, auch in aktuellen Debatten kritisch zu hinterfragen, wer welche Begriffe wie besetzt und vor allem welche Interessen hinter solchen Grenzziehungen stehen.«, Politische Studien, 05.12.2016
Autorentext
Stefan Scholl lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Siegen.
Leseprobe
I. Einleitung
"[W]hat is at stake is not the degree of effectiveness of a fully constituted object - the economy - on the rest of the social development, but to determine the extent to which the economy is constituted as an autonomous object, separated by a boundary of essence from its factual conditions of existence."
"More fundamentally, political economy requires analysis of the way in which ideas about what constitutes the political and the economic have emerged historically."
Als die Finanz- und Wirtschaftskrise im Herbst 2008 erstmals verstärkt medial thematisiert wurde, kam es geradezu explosionsartig zu einer Verdichtung der Überlegungen und Äußerungen zum Verhältnis von Wirtschaft und Politik: "Die Botschaft heißt: Wir haben das Sagen! Die Politik hat sich ermannt. Sie hat in dieser Krise zu neuem Selbstbewusstsein gegenüber der Wirtschaft gefunden." Die Politik "reiß[e] das Gesetz des Handelns nun wieder an sich", denn "die Krise ist generell der Augenblick des Politischen, und das Politische ist der Ort demokratisch legitimierter Entscheidung. Den wiederzugewinnen, darauf kommt es an." IG-Metall-Vorsitzender Berthold Huber forderte den "Primat der Politik über die Ökonomie" ebenso wie Franz Müntefering oder Jürgen Rüttgers. Nach dem jahrelangen Vorherrschen einer naiven Marktgläubigkeit wurde nun weithin die Rückkehr der Politik diagnostiziert.
Ungeachtet der relativen Unbestimmtheit dieser Äußerungen trafen sie schnell auf konkurrierende Deutungsmuster. "Politik" habe zwar "verantwortungsbewusst gehandelt, als sie mit erheblichen Staatseingriffen das Finanzsystem stabilisierte", doch sie befinde sich in der Gefahr, "jene Maßlosigkeit an den Tag zu legen, die sie zu Recht Teilen der Bankelite vorwirft." Man befürworte zwar ausdrücklich den "Primat der Politik", so der Chefsvolkswirt der Deutschen Bank, Thomas Mayer, allerdings müsse die Politik sich diesen Primat gegenüber den Märkten durch Nachhaltigkeit erst verdienen. Die Rede von einer Rückkehr der Politik wurde deshalb teilweise heftig kritisiert: "Politik als Retter - Wer rettet uns vor der Politik?", fragte etwa Frank Schirrmacher. Der Vorsitzende der Ludwig-Erhard-Stiftung, Hans Dieter Barbier, wies in Bezug auf das erste Konjunkturprogramm der deutschen Bundesregierung darauf hin, dieses sei "mal wieder ganz und gar politisch geraten", und gab zu bedenken, dass "das Politische so gut wie immer seinen ökonomischen Preis" habe. Überhaupt, so der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Martin Kannegiesser, habe man das Gefühl, "als ob alle Dämme brechen, eine Inflationierung des Denkens einsetzt. Es scheint eine Politisierung in die Wirtschaft einzuziehen, die letztlich wirtschaftliche Maßstäbe aushöhlt." Sehr schnell kam im Verlauf der Krisendiskussionen zudem die Rede von der politischen Alternativlosigkeit gegenüber den Kräften der Märkte wieder auf. Speziell am Beispiel der Hilfe für die besonders krisengeplagten EU-Länder wurde darauf insistiert, "dass sich die Marktkräfte langfristig durch politisch verordnete Notoperationen nicht domestizieren lassen. Die Politik hat keine Chance gegen den Markt." Als Korrektiv (besonders umverteilungs-)politischer Auswüchse galten die Märkte manchen gar schon länger als "fünfte Gewalt" in der Demokratie. Angela Merkels auf einer Pressekonferenz im September 2011 geäußerte Hoffung, "die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist", ist daher nur ein prominentes Beispiel eines Politikbegriffs, dem es in erster Linie darum geht, das Vertrauen der Märkte zu erlangen.
Fragestellung
Diese wenigen aktuellen Belegstellen deuten an, dass die Frage nach dem richtigen Verhältnis von Wirtschaft und Politik Bestandteil heftiger Deutungskämpfe und Auseinandersetzungen ist. Dass dies auch in der Vergangenheit der Fall war, bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung: Es soll danach gefragt werden, auf welche Weise, in welchen Debatten und von wem das Verhältnis von Wirtschaft und Politik durch sprachliche Abgrenzungen, Bedeutungszuschreibungen und Hierarchisierungen hervorgebracht und aktualisiert wurde. Die Äußerungen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts zum Verhältnis von Politik und Wirtschaft getroffen wurden, werden als Akte politischer Kommunikation analysiert, da sie Teil eines Deutungskampfes über die Grenzen des Politischen und des Ökonomischen waren: Deutungsmuster wurden geprägt und reproduziert, die zu definieren versuchten, was politisch und was ökonomisch ist, Argumentationsmuster wurden entwickelt und abgerufen, um die Abgrenzung zwischen Politischem und Ökonomischem zu begründen und zu plausibilisieren. Die Grenze zwischen Wirtschaft und Politik wird aus dieser Perspektive als kontingent, prekär und somit politisch umkämpft, abhängig von historischen Konstruktionen betrachtet.
Mit der Konzentration auf Abgrenzungsbeschreibungen und -semantiken zwischen Wirtschaft und Politik gerät schwerpunktmäßig ein spezifisch liberal-ökonomischer Diskurs in den Blick. Dessen Grundannahme einer Trennung der beiden Bereiche kann allerdings als hegemonial bezeichnet werden. Selbst Diskurse, die auf eine Überwindung der Trennung zielten, mussten sich im abgesteckten Rahmen der Unterschiedlichkeit und ihrer Semantiken bewegen oder wurden für schädliche Grenzüberschreitungen kritisiert, wie an mehreren Stellen der Arbeit belegt wird.
Im Rahmen der Untersuchung wird davon ausgegangen, dass speziell sprachliche Artikulationen einen großen Anteil an der fortlaufenden Grenzziehungsarbeit zwischen dem Politischen und dem Ökonomischen haben. Damit sei zugleich einschränkend darauf hingewiesen, dass der Grenzziehungsdiskurs keineswegs exklusiv sprachlicher Art ist. Die Grenzziehung zwischen Wirtschaft und Politik kann sich beispielsweise in der geografischen Anordnung von Regierungs- und Finanzvierteln ebenso materialisieren wie im Aufeinandertreffen von Josef Ackermann und Angela Merkel im Kanzleramt. Es bleibt aber zu fragen, wie diese architektonischen oder personalisierten Anordnungen als politisch und ökonomisch sprachlich markiert und gedeutet werden. Gleichzeitig muss betont werden, dass der Fokus auf Sprache nicht impliziert, dass es sich bei den untersuchten Gegenständen um bloßes sprachliches Beiwerk im Sinne einer außerhalb der eigentlich wichtigen Verschiebungen …