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Mit dem Spannungsverhältnis zwischen der »naiven« Sicht gewöhnlicher Akteure und der theoretischen Perspektive von Experten behandelt das Buch eine der methodologischen Grundfragen der kritischen Gesellschaftstheorie. Unter Rückgriff auf die Ansätze von Pierre Bourdieu und Luc Boltanski wird ein nicht-paternalistisches Verständnis kritischer Theorie entworfen als soziale Praxis, die keine privilegierte Position der Erkenntnis voraussetzt.
Autorentext
Robin Celikates, Dr. phil., lehrt Politische Theorie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Klappentext
Mit dem Spannungsverhältnis zwischen der »naiven« Sicht gewöhnlicher Akteure und der theoretischen Perspektive von Experten behandelt das Buch eine der methodologischen Grundfragen der kritischen Gesellschaftstheorie. Unter Rückgriff auf die Ansätze von Pierre Bourdieu und Luc Boltanski wird ein nicht-paternalistisches Verständnis kritischer Theorie entworfen - als soziale Praxis, die keine privilegierte Position der Erkenntnis voraussetzt.
Leseprobe
II. »Den Akteuren auf der Spur«: Das Modell der Symmetrie »A curious fact becomes apparent if you look at the first paragraph it may occur in the third paragraph of the reportedly revolutionary scientific treatises back to the Pre-Socratics and extending up to at least Freud. You find that they begin by saying something like this, About the thing I'm going to talk about, people think they know, but they don't. Furthermore, if you tell them it doesn't change anything. They still walk around like they know although they are walking in a dream world. [] What we are interested in is, what is it that people seem to know and use?« (Harvey Sacks) »The sociologists are forever beginning their descriptive works, Whereas it is commonly held that ... Then comes the corrective. [] First, the writer knows without needing to demonstrate, one member to another, what it is that he is furnishing as to what the man in the street believes. [] Second, he is somehow or other able to assign beliefs to the common man, without courting a quarrel. [] The third feature is that the common-sense knowledge is said to be defective, and what the writer furnishes is a repair.« (Harold Garfinkel) 1. Einleitung Eines der zentralen Ergebnisse der im ersten Teil ausgeführten Kritik an Bourdieus Konzeption einer kritischen Sozialwissenschaft und allgemeiner: aller sozialwissenschaftlichen Modelle, die durch die Dogmen des Szientismus und Objektivismus sowie des Bruchs und der Asymmetrie gekennzeichnet sind ist, dass eine Theorie, die den »gewöhnlichen« Akteuren die Fähigkeit abspricht, sich von der Situation zu distanzieren und in ein reflexives Verhältnis zu ihrem Handeln zu treten, die Komplexität der sozialen Realität im Allgemeinen und der Alltagspraxis im Besonderen verdeckt und nicht adäquat zu erfassen vermag. Die Sozialtheorie braucht ein Vokabular, das es ihr ermöglicht, genau zu beschreiben, wie sich die Reflexivität der Akteure in alltäglichen sozialen Praktiken konstituiert und wie sie in ihnen zum Ausdruck kommt. In diesem zweiten Teil wende ich mich mit der Ethnomethodologie und der an sie anknüpfenden Soziologie der Kritik zwei Versuchen zu, ein solches Vokabular auszuarbeiten. In der Perspektive Bourdieus stellen die Akteure ihr Handeln ob es nun um ästhetische Vorlieben, Konsumentscheidungen oder Politik geht unbewusst in den Dienst der Reproduktion sozialer Ungleichheit. Welche Gründe sie auch immer für die Wahl dieses Radiosenders, dieses Gemüses oder dieser Partei angeben und wie sie ihr eigenes Handeln auch immer deuten, Bourdieu behauptet zeigen zu können, dass ihr individuelles Handeln letztlich durch ihre objektive Position im sozialen Feld bestimmt wird. Die nun zu diskutierenden Ansätze interessieren sich hingegen gerade für die Deutungen und Rechtfertigungen der Akteure, also dafür, wie sie handeln und ihr Handeln interpretieren, insbesondere wie sie dieses Handeln wechselseitig rechtfertigen und kritisieren. Das kann man nur herausfinden, wenn man die Akteure ernst nimmt und nicht als judgmental dopes behandelt. Deshalb wird der Fokus von Strukturen, Herrschaftsverhältnissen und anderen hinter dem Rücken der Akteure und für sie undurchschaubar wirkenden sozialen Kräften auf die komplexen Praktiken der Rechtfertigung und der Kritik in konkreten Situationen sowie die damit verbundenen Selbstdeutungen der Akteure gelenkt. Die Ethnomethodologie ermöglicht mit ihrem radikalen Verzicht auf die epistemische Privilegierung der sozialwissenschaftlichen Beobachterperspektive gegenüber der Teilnehmerperspektive kompetenter Gesellschaftsmitglieder den Übergang von einer »Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft«, wie sie Bourdieu betreibt, zu einer Soziologie der Urteilskraft und der Kritik, wie ich sie im Anschluss an die Arbeiten der Gruppe um Luc Boltanski im vierten Abschnitt dieses Teils skizziere. Ganz allgemein gesprochen reihen sich die beiden Ansätze, die ich als exemplarisch für das im Gegensatz zum Modell des Bruchs stehende Modell der Symmetrie diskutiere, in die von Hermeneutik und Phänomenologie inspirierte Gegenbewegung zur naturalistischen und szientistischen Konzeption der Soziologie als allgemeiner Gesetzeswissenschaft ein, die auch noch die Idee einer kritischen Sozialwissenschaft informiert. Diese Gegenbewegung stellt das Wissen, die Fähigkeiten und das Selbstverständnis der Akteure ins Zentrum, die aus einer objektivistischen Beobachterperspektive nicht zugänglich sind, und dreht die epistemische Hierarchie zwischen »gewöhnlichen« Akteuren und Sozialwissenschaftlern um. Die phänomenologische Soziologie (etwa in der von Alfred Schütz geprägten Form) stellt einen wichtigen Schritt in diese Richtung dar, der auch für die Position der Ethnomethodologie prägend ist; sie geht aber noch nicht weit genug, weil Common Sense und Alltagswissen der Akteure nur als weiteres Thema der sozialwissenschaftlichen Analyse, nicht aber als im Prinzip gleichrangige oder sogar vorrangige Formen des Wissens über die soziale Welt in den Blick kommen. Schütz' Kritik des naturalistischen und szientistischen Verständnisses der Soziologie beschränkt sich denn auch auf den Vorwurf, diese verpasse den Sinn und die spezifische Rationalität der Alltagspraxis, die sich nur erschlössen, wenn man wie die phänomenologische Soziologie den Common Sense selbst als theoretische Ressource entdecke. Das Projekt einer von den Selbstdeutungen der Akteure strukturell unterschiedenen und im Verhältnis zu diesen auch epistemisch privilegierten Wissenschaft des Sozialen wird damit nicht aufgegeben, sondern nur anderen Adäquatheitskriterien unterworfen und auch der phänomenologische Hinweis auf die wissenschaftlich nicht einholbaren lebensweltlichen Grundlagen einer Wissenschaft des Sozialen ist nicht als Einwand gegen dieses Projekt, sondern als Weg zu seinem adäquateren Verständnis gemeint (vgl. Schütz 1971 IV). Vor diesem Hintergrund stellt die Ethnomethodologie eine Radikalisierung der von der Phänomenologie mitgetragenen pragmatischen Wende dar. Sie versteht sich selbst nicht als eine weitere, empirisch reichhaltigere Form der theoretischen Analyse, sondern als Alternative zum orthodoxen sozialwissenschaftlichen Projekt und seinen in der Einleitung skizzierten dogmatischen Vorannahmen. Mit diesem Selbstverständnis geht eine vollkommene Revision des Status der Theorie einher: Professionelle und Laien-Soziologie gelten als epistemisch gleichwertige Modi praktischer Reflexion, die Teil des sozialen Lebens sowie seiner Reproduktion und Transformation in konkreten Interaktionssituationen sind. Analyse, Interpretation, Reflexion und Kritik werden als Dimensionen der Alltagspraxis selbst sichtbar. Auf diese Weise wird die Kontinuität zwischen praktischen und theoretischen Formen des Selbst- und Weltverhältnisses herausgestellt, nicht deren Diskontinuität. Denn auch die theoretische Reflexion ist eine Form des »practical soc…