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Wer fragt, wie Kritik praktisch werden kann, muss eine Vorstellung davon haben, was Kritik ist - und vor dem Hintergrund welcher normativer Ordnungen etwas als eine kritische Praxis erscheint. Denn eine Ordnung infrage stellen zu können, scheint fundamental für die Wirkkraft einer kritischen Praxis zu sein, die Veränderung zum Ziel hat und sich mit dieser Forderung an besondere Adressaten und eine Öffentlichkeit wendet. Der Band führt vor Augen, dass Praktiken der Kritik zugleich bestimmte Formen der Auffassung von Kritik sind. Dabei zeigt sich: Die Verknüpfung von Theorie, Praxis und gesellschaftlich spezifischer Auslegung einer normativen Ordnung ist für das Verständnis von Praktiken der Kritik zentral.
Autorentext
Katia Henriette Backhaus, M.A., und David Roth-Isigkeit sind wissenschaftliche Mitarbeiter am Exzellenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen« an der Universität Frankfurt.
Leseprobe
Einleitung: Perspektiven auf Praktiken der Kritik
Katia Henriette Backhaus/David Roth-Isigkeit
Wer fragen will, was Praktiken der Kritik sind, muss zuerst eine Vorstellung davon haben, was Kritik eigentlich ist. Eine jede positive Bestimmung droht wieder Gegenstand kritischer Praktiken zu werden, eine jede Grenzziehung zwischen Kritik und Nicht-Kritik ihrerseits wieder kritikwürdig. Zugleich sind Gesellschafts- und Herrschaftskritik besondere Formen der Kritik, die sich auf soziale Zustände und ihre Legitimation richten. Stets im Zentrum stehen dabei die Beziehungen von Recht, Macht und Gewalt, die in die individuelle und kollektive Freiheit von Menschen eindringen.
Es können zwei für diesen Band bedeutsame Perspektiven der Kritik ausgemacht werden, die exemplarisch für ganz unterschiedliche Vorstellungen der normativen Ordnung stehen. Die klassische Kantische Bestimmung der Aufklärung fordert ein kritisches Subjekt, das sich seines eigenen Willens bedient, der fortan keine heteronome Bestimmung mehr erlaubt und allein das selbstgegebene Gesetz als moralisches akzeptieren kann und damit Autonomie verwirklicht. Dabei ist es die Vernunft des Einzelnen, die mithilfe des kategorischen Imperativs erkennt, was das moralische Gesetz gebietet. Das daraus entwickelte Gesellschaftsmodell der kollektiven Selbstbestimmung mithilfe von Deliberation und dem Anspruch vernünftiger Gesetzgebung zielt auf den bürgerlichen Zustand, der als ein kritischer zu verstehen ist, weil seine Regeln allein den Erkenntnissen der autonomen Vernunft folgen.
Dieses Modell der Aufklärung kontrastiert Michel Foucault mit einem radikaleren Verständnis. Radikaler ist es, da die Perspektive des Einzelnen und seiner Vernunfterkenntnis überstiegen wird und der gesamtgesellschaftliche Rahmen und die in ihm existierenden Machtverhältnisse ebenfalls zum Objekt der Kritik werden. Aufklärung bei Kant, so Foucault, findet nur in dem Moment statt, in dem sich "der universale, der freie und der öffentliche Gebrauch der Vernunft überlagern". Bei Kant bleibt der Staat die Autorität, die Widerständiges nicht dulden kann, aber immerhin den Rahmen der öffentlichen Debatte bietet: "Räsonniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt, aber gehorcht!" Foucault deutet den preußischen Leitspruch entsprechend kritisch: "Gehorcht, und ihr werdet soviel räsonieren können, wie ihr wollt."
Was er im Kontrast zu Kant fordert, ist den "Bezug zur Gegenwart, die historische Seinsweise und die Konstitution seiner selbst als autonomes Subjekt" zu untersuchen und in der Form eines "philosophischen Ethos [] als permanente Kritik unseres historischen Seins" zu begreifen. Es geht also darum zu erfragen, was das autonome Subjekt zu dem macht, was es ist. Grenzsetzungen, die notwendig erscheinen, z.?B. um das "Normale" vom "Anormalen" zu trennen, spielen bei Foucault eine entscheidende Rolle, denn solche Grenzlinien sind immer auch Markierungen der Macht. Diese überhaupt sehen und kritisieren zu können, und nicht auf die Erforschung der Grenzen der je individuellen Vernunfterkenntnis beschränkt zu sein, ist das Foucaultsche Projekt. In diesem Sinne macht Foucaults Kritik an Kant auf die Bedeutung der Perspektivität von Kritik aufmerksam. Erst wenn auch der Standpunkt des fragenden Subjekts und des erfragten Objekts und die Grenzen und Entstehungsbedingungen dieses Standpunkts kritisch hinterfragt werden können, d.?h. der perspektivische und (selbst)reflexive Charakter von Kritik einbezogen wird, findet die je spezifisch kontextuelle Verhaftung der Fragestellenden hinreichend Beachtung.
Dass Kritik nicht umhin kann, den Bezug auf die Verhältnisse, die auch ihre theoretische Verfassung beeinflussen, einzubeziehen, ist in noch anderer Form explizit geworden. Die Hoffnung der Frankfurter Kritischen Theorie, die als Reaktion auf die erlebte Geschichte und den damit einhergehenden "Traditionsbruch" (Arendt) gelesen werden kann, musste also konsequent darein gesetzt werden, die Verortung in den Rahmen der konkreten gesellschaftlichen Zustände und Entwicklungen zu erreichen. Der mit der Entnazifizierung unerledigt gebliebene deutsche Faschismus, die Kulturindustrie, und immer wieder: der Kapitalismus, dienten und dienen als Funken der Kritik; Sozialphilosophie, Soziologie und der Kampf gegen den Wissenschaftspositivismus stärkten und belebten das theoretische Feuer. Darin und in neu auftauchenden Herausforderungen und Problemen, wie etwa dem anthropogenen Klimawandel, Spielarten von Herrschafts- und Machtgefügen zu sehen, und die Narrative normativer Rechtfertigungen zu erkennen scheint ebenso wichtig wie die Aufgabe eines kritischen Umgangs damit immer wieder zu betonen und Formen dieses Umgangs zu diskutieren und zu reflektieren.
Kritische Perspektiven - Kritik der Perspektiven
Entscheidend für ein Verständnis von Praktiken der Kritik als eine Form kritischen Umgangs ist, so unser übergreifender Gedanke, nicht allein das Verhältnis zwischen Kritik und ihrem Gegenstand, sondern vielmehr die Perspektive auf dieses Verhältnis, d.?h. auf Praktiken der Kritik. Mit dem dualistischen Verständnis von kritischem Subjekt und kritisiertem Objekt entsteht eine Spannung, die nicht auflösbar ist, weil der Anspruch des Kritisierenden, überhaupt Kritik üben zu können, notwendigerweise zugleich Akzeptanz für die Berechtigung dieses Anspruchs fordern muss. Damit ist das Verhältnis eines spezifischer Rollen und Standpunkte, die mit (impliziten) Erwartungen und Ansprüchen einhergehen. Solange die Subjekt-Objekt-Trennung in der Gesellschaftstheorie eine entscheidende Rolle spielt, ist Kritik eine Frage der Perspektive.
Eine kritische Perspektive entsteht also nicht allein dadurch, tatsächlich - im wahrsten Sinne des Wortes - auf die theoretische Reflexion die kritische Aktion folgen zu lassen. Den Willen zum (vermeintlich) Richtigen mit einer Handlung zu verknüpfen, wie Kant erhoffte, ist ein stark rationalitätsgeleiteter Zugang, der die ganze Bandbreite von Normen und Rechtfertigungsmustern nicht einfangen kann. Denn auch wenn, wie Rainer Forst und Klaus Günther behaupten, Normen "ihre bindende Kraft aus einer Rechtfertigung beziehen", und damit den logischen Prinzipien von Gründen unterworfen sind, nehmen sie in der Praxis stets kontextuelle Gestalt und narrative Form an. Das bedeutet, den Blick auf die jeweiligen Standpunkte Kritisierender und Kritisierter nicht auszusparen, und eine Kritik dieser Standpunkte zu ermöglichen.
Der Fokus auf die Perspektiven verweist also nicht auf die Bemühung um ein "Praktischwerden" einer rein theoretischer Kritik oder eine rein praktisch orientierte revolutionäre "Philosophie der Tat", sondern auf die Grundlagen einer kritischen Theorie überhaupt: Was sind Praktiken der Kritik, wie binden sie Theorie und Praxis als komplementäre Momente ein? Was geschieht, wenn Kritik geübt wird, was ist die Praxis des Kritisierens, und was sind die praktischen Auswirkungen von Kritik? Vor dem Versuch einer Antwort jedoch muss einem berechtigten Ein…