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Ein Geheimnis, das zwei Leben für immer verändert
Leonardo Conigliaro, von Familie und Freunden Nanà genannt, ist Arzt in Camporeale, einem sizilianischen Dorf, in dem die ehrenwerte Gesellschaft und die Mafia seit jeher eine bedeutende Rolle spielen. Frank Fischer, in Wolfsburg von einer alleinerziehenden Mutter großgezogen, ist ein aufsteigender Stern am deutschen Journalistenhimmel und bekannt für seine Investigativrecherchen. Beide Männer sind Ende der 1950er-Jahre geboren, haben aber keinerlei weitere Berührungspunkte, bis Nanà ein lange Zeit gut gehütetes Geheimnis lüftet und eine alte Familienschuld bei ihm eingefordert wird. Im wiedervereinten Deutschland prallen Franks und Nanàs Wege unausweichlich aufeinander und verlangen eine Entscheidung, die ihre beiden Leben für immer verändert.
Vorwort
Ein Geheimnis, das zwei Leben für immer verändert
Autorentext
Pippo Pollina, geboren 1963 in Palermo, besuchte das Konservatorium und studierte Rechtswissenschaften. Er engagierte sich früh in der Antimafiabewegung und arbeitete u.a. für die von Giuseppe Fava gegründete Zeitschrift I Siciliani. Nach Favas Ermordung durch die Mafia verließ Pollina 1985 Sizilien, um erstmal als Straßenmusiker durch die Welt zu reisen. Pippo Pollina, der seit Langem in Zürich lebt, wurde für sein musikalisches Schaffen mehrfach ausgezeichnet, hat zahlreiche Alben aufgenommen und ist auf vielen großen Bühnen aufgetreten. Der Andere ist sein Debütroman.www.pippopollina.com
Leseprobe
Camporeale, Januar 1988
FRAGMENT EINS
Im sanften Abendlicht nahm ich Kurve um Kurve, der Monte Iato rückte unaufhaltsam näher, und als es plötzlich nach Eukalyptus roch, wusste ich, dass es bis nach Hause nicht mehr weit war. Ich zuckelte hinter einem Traktor her, der Rauchwölkchen in den Himmel stieß, und hatte Zeit, die Hügellandschaft zu betrachten, Korn und Melonen sprossen neben nackten Rebstöcken, selbst im Winter tanzten Grün und Braun über die Felder, und sehnsüchtig dachte ich an den Kaffee, den ich mir gleich bei Don Calogero an der Piazza genehmigen würde. Über den Kaffee in Palermo konnte man nicht meckern, aber an den in Maciddaru wie Camporeale im Dorf genannt wurde kam er nicht heran. Don Calogeros Arabica-Mischung duftete einmalig und spielte gekonnt mit der Note des Abgangs. Manchmal träumte ich von einem kleinen, typischen Wiener Kaffeehaus, mit runden, schwarzen Holztischchen, Jugendstilstühlen wie im alten Caffè Caflisch in Palermo, Kellnern mit Fliege und cremeweißem Frack. In Wahrheit arbeitete ich als angehender Arzt in einer Praxis im Zentrum von Palermo und konnte mich wirklich nicht beschweren. Ab und zu kam ein Rentner vorbei, der auf der Treppe gestürzt war, oder ein Zwölfjähriger mit gebrochenem Arm, der das Moped seines großen Bruders stibitzt hatte. Klar, Unangenehmes gab es auch. Etwa der junge Mann mit der Schussverletzung und durchtrenntem Bizeps, der hereingerannt kam und rief: »Los, dalli, dalli.« Ich sagte kein Wort, aber unser Blick erzählte die Geschichten und Schicksale von Generationen. Mamma hatte es schon immer gesagt: »Such dir ne Stadtwohnung, jetzt, wo du verdienst.« Vielleicht hatte sie recht. Das dachte ich jedenfalls, als der Traktor weiter stur vor mir hertuckerte, statt auf den Seitenstreifen auszuweichen. Doch dann kamen links der Wasserturm und das alte Dorf, soweit es das Erdbeben von 1968 überstanden hatte. Obwohl der Staat ein paar Kilometer weiter talabwärts moderne Mehrfamilienhäuser gebaut hatte, wohnten alle noch immer hier. Dort unten jagten die streunenden Hunde der Stille hinterher. An der Piazza saß Don Calogero vor der Tür, auf einem alten Holzstuhl, und sog begierig an seiner filterlosen Zigarette. Als er mich sah, erhob er sich, mit schmerzverzerrtem Gesicht, wie immer. Zu viele Jahre schon stand er hinter dem Tresen, vor sich wie einen Hochaltar die alte rote Gaggia für drei Portionen. »Ristretto oder normal?«, fragte er mich. Das war unser Ritual. Ob ich den Kaffee stark oder weniger stark trank, hing davon ab, wie viel ich zu Hause noch arbeiten musste. In einigen Wochen standen mir die schwierigen Facharztprüfungen bevor, die raubten mir den Schlaf. Heute war ein Ristretto-Tag. »Wie gehts, Don Calogero, alles gut?«, fragte ich. »Warum tu ich mir das überhaupt noch an? Mein Sohn ist in Bologna, meine Tochter in Vigevano, und ich bin bald dreiundsiebzig. Und wenn du wegziehst, für wen mach ich dann überhaupt noch Kaffee?« Flüsternd fügte er hinzu: »Es gefällt mir nicht, was hier momentan passiert. Es stinkt zum Himmel.« »Nun übertreibt mal nicht, Don Calogero«, beschwichtigte ich ihn. »Das sagt Ihr schon seit mindestens fünf Jahren, und Ihr seht, ich bin noch da. Und Ihr genauso, mit ein paar Zipperlein. Ich häng an unserem Dorf. Palermo ist schön, aber zu groß, der viele Verkehr, ich geh nicht weg, keine Sorge.« Don Calogero schwieg, ich blickte nach draußen. Die Piazza von Maciddaru lag halb leer in der Dämmerung. Nur ein paar Autos krochen den Hügel zum Friedhof hinauf. Dort lag mein Vater schon seit fünf Jahren. Meinen Uniabschluss hatte er nicht mehr erlebt. Ich war sein einziger Sohn, meine Schwester hatte nicht viel mit der Schule am Hut. »Sagt mal, Don Calogero, habt Ihr meinen Vater eigentlich gut gekannt?« Don Calogero blickte mich überrascht an. »Niemand hier hat deinen Vater wirklich gekannt. Als er damals aus Deutschland zurückkam, war er einfach nicht mehr derselbe. Don Vincenzo, kann ich dir irgendwie helfen?, hab ich gefragt. Er antwortete immer nur: Nein, wieso?« Offenbar wunderten sich im Dorf viele, warum Don Vincenzo Conigliari erst ins Land von Volkswagen emigriert und kaum ein Jahr später wieder zurück war. »Ich weiß noch genau, wie wütend Zio Rocco über seine Auswanderungspläne war«, sagte Don Calogero. »Jeden Morgen hörte ich: Was will der denn in Deutschland? Hier gibts doch Arbeit für Enzuccio! Aber auf dem Ohr war dein Vater taub, und eines Tages ist er einfach weggegangen, nach Wolfsburg.« Ich malte mir gerne aus, dass ihn die Sehnsucht in die Arme der Familie zurückgetrieben hatte, meine Schwester war noch klein, meine Mutter mit mir schwanger. »Man kann keinem in den Kopf schauen«, sagte Don Calogero. »Er war wieder da und basta. Wenn wir gefragt haben, wie es in Deutschland war, hat er nur gesagt: Kalt, das Essen schmeckt nicht. Vom Kaffee ganz zu schweigen.« »Tja, der Kaffee«, sagte ich und schaute Don Calogero an. »Wieso fragst du das jetzt, Nanà? Du kanntest deinen Vater doch?« Die Frage überraschte mich, ich überlegte, die Antwort fiel mir schwer. Nein, ich hatte meinen Vater nicht wirklich gekannt, auch mir gegenüber hatte er sich in düsteres Schweigen gehüllt. »Ich hab meine Zeit mit Lernen verbracht, Don Calogero, erst hier, dann am Gymnasium und später an der Uni in Palermo. Wie hätte es ihn gefreut, mich als Arzt zu sehen, aber er hat nicht mal mehr meinen Uniabschluss erlebt. Dabei hätte ich früher fertig sein können. Das werde ich mir nie verzeihen.« Don Calogero blickte mich wortlos an. Schließlich räumte er meine Tasse weg. »Der geht aufs Haus«, sagte er. »Salutamu, Don Calogero, und danke.« Den Kaffeegeschmack noch im Mund, schlenderte ich durchs Dorf nach Hause. Eines Morgens hatte mein Vater, mit blassem Lächeln auf den Lippen, tot im Bett gelegen Das Herz, hieß es, nicht mal meine Mutter hatte etwas gemerkt. Ich erinnerte mich noch genau, wie er jeden Abend von unserem Getreideacker oder vom Weingarten nach Hause gekommen war. Die Coppola auf dem Kopf, die Hände so faltig wie Baumrinde, die Finger geschwollen, die Handflächen rissig, mit sonnengegerbtem Gesicht, dunkel wie Ebenholz, die Augen klein und unruhig. Nie ein einziges Wort, nie ein Lächeln zu viel. Ab und zu holte ihn sein Bruder, Zio Rocco, nach dem Abendessen ab, und sie spazierten zur Bar. Als Kind durfte ich sonntags manchmal mit, im Sommer sprang sogar ab und zu ein Ascaretto dabei heraus, mein Lieblingseis. Mein Vater und Zio Rocco hatten ein kompliziertes Verhältni…