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Was hat ein Philosoph der Aufklärung uns im 21. Jahrhundert noch zu sagen? Unser Autor hat sich zeit seines Lebens ausführlich mit dem Königsberger Denker, nach dem man die Uhr stellen konnte, wie eine populäre Anekdote lautet, auseinandergesetzt und ist sich sicher: Die Aktualität Kants liegt in seinem Kosmopolitismus. Kant war Weltbürger und überzeugter Demokrat und seine Philosophie, die er mit einer großen Fülle und Tiefe an Argumenten dargelegt hat, wird im Gegenzug auch weltweit anerkannt, da sie kulturübergreifend verständlich und einleuchtend ist, was ihn zu einem der wichtigsten Denker unter allen Philosoph:innen macht. Zu seinem runden Geburtstag sollen diese kantischen Gedanken aus sich selbst heraus zum Leuchten gebracht werden. Für die Lektüre benötigt man keine Vorkenntnisse in Kants Philosophie und er selbst wird ausführlich zitiert. Der umfangreiche und klar gegliederte Text geht auf viele Themen anhand der Hauptwerke ein, denn Kant hat sich mit fast allem befasst. Dabei sind die Fragen, die er aufwirft, auch noch heute radikal und provokant, was auch für viele seiner Antworten zutrifft.
Autorentext
Otfried Höffe ist em. Professor für Philosophie der Universität Tübingen, Leiter der dortigen Forschungsstelle Politische Philosophie sowie Professor für Praktische Philosophie an der Tsinghua-Universität in Peking. Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, der Deutschen Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Er arbeitet vor allem zur Ethik und politischen Philosophie sowie zu Kant und Aristoteles. Höffe ist Träger des Bayerischen Karl-Vossler-Preises für wissenschaftliche Werke von literarischem Rang.
Zusammenfassung
Otfried Höffe bietet in seinem großen Kant-Buch einen profunden Überblick über Leben und Werk des Philosophen. ZEIT Online
Leseprobe
Seit einiger Zeit liebt man es, zwei angeblich einander entgegengesetzte Wissenschaftsbereiche, die Natur- und die Geisteswissenschaften, zu unterscheiden. Kant hingegen bewegt sich in beiden akademischen Welten. Zum einen studiert er zwei der heute so genannten MINT-Fächer (Mathematik, Naturwissenschaft, Informatik und Technik), nämlich Mathematik und Naturwissenschaften, hier Theoretische Physik und Experimentalphysik. Denn ein eigenes Fach Informatik gab es damals noch nicht, und die Technik war kein Universitätsfach. Zum anderen befasst er sich intensiv mit Geisteswissenschaften, hier nicht weniger als mit Theologie, Philosophie (dabei Logik, Metaphysik, Ethik, Rechts- und Staatsphilosophie) und klassische lateinische Literatur, vermutlich auch mit Dichtkunst und Rhetorik. Der zugrundeliegenden Einstellung bleibt unser Philosoph sein Leben lang treu: einen möglichst weiten geistigen Horizont zu durchschreiten, auch wenn dieser im Laufe der Jahre unterschiedliche Schwerpunkte und manche Horizontverschiebung erhalten wird. Für Kant, den Wissenschaftler, versteht es sich, dass er sich dabei nicht von den Ansprüchen kreativer Wissenschaftlichkeit dispensiert. Kant verfasst zwar keine thematisch weitgespannten Lehrbücher oder Kompendien, die den bisherigen Wissensstand nur zusammenfassen, ohne ihn jedoch um neue Erkenntnisse zu bereichern. Im Gegenteil entwickelt unser Philosoph in jeder seiner Veröffentlichungen neue Einsichten. Die Themen ändern sich jedoch. Kant behandelt kaum einmal ein und denselben Gegenstand unter einem nur wenig abgewandelten Gesichtspunkt. Er nimmt sich immer wieder neue Fragen und Aufgaben vor, sodass auf ihn die verbreitete, aber häufig zu Unrecht angewandte Redensart passt: Der Philosoph ist ständig zu neuen Ufern unterwegs. Kant beginnt, erst 23-jährig, seine Autorentätigkeit mit einer umfangreichen Abhandlung (256 Seiten im Erstdruck), die den barocken Titel trägt: Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurteilung der Beweise derer sich Herr von Leibniz und andere Mechaniker in dieser Streitsache bedienet haben, nebst einigen vorhergehenden Betrachtungen, welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen (1747 beendet, 1749 veröffentlicht). Hier befasst sich Kant mit dem, was man heute kinetische Energie, damals »lebendige Kräfte« nennt. Es geht nämlich um die Frage, wie man die Kraft (K) aus Masse (m) und Geschwindigkeit (v) zu berechnen hat. Knapp ein Jahrzehnt später veröffentlicht er als zweites Buch, ein für die damalige Zeit geradezu revolutionär kühnes Werk: die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755). Diese noch aus heutiger Sicht höchst moderne Evolutionstheorie des Universums schiebt alle theologischen Argumente beiseite. Da deshalb »von Seiten der Religion« Schwierigkeiten zu befürchten sind, lässt Kant die Schrift auf eine in der europäischen Aufklärungsepoche weit verbreitete Weise, nämlich ohne seinen Autorennamen, veröffentlichen. Nachdem jedoch die Anonymität gelüftet worden ist, sind die für etliche Theologen anstößigen Gedanken wohl ein Grund, dass Kant auf die frei gewordene Professur für Logik und Metaphysik (1756), obwohl er für sie bestens geeignet war, nicht berufen wird. Die Stelle, die er, peinlicherweise, erst ein Jahrzehnt später erhält, ist, zweite Peinlichkeit, eine Professur der Dichtkunst. Schon in der Vorrede der genannten Naturgeschichte stellt Kant seinen evolutionstheoretischen Grundgedanken vor: »daß Gott in die Kräfte der Natur eine geheime Kunst gelegt hat, aus dem Chaos von selber zu einer vollkommenen Verfassung auszubilden«. Daran schließt er die von hohem Selbstbewusstsein zeugende Behauptung an: »Gebt mir nur Materie, ich will euch eine Welt daraus bauen« (I 229). Anders als der von ihm ansonsten bewunderte Newton beruft sich Kant nicht zusätzlich auf die Hand Gottes, sondern lediglich auf die »Hand der Natur« (I 337), nämlich auf ihr »eingepflanzte Kräfte und Gesetze« (I 334). Die aus rein natürlichen Ursachen folgende, ausschließlich mechanische Erklärung der Entstehung des Kosmos, diese Kosmogonie, bleibt in der wissenschaftlichen Welt zunächst unbeachtet.
Inhalt
Vorwort Die Person als Vorbild? 1. Einfache Verhältnisse 2. Enzyklopädische Wißbegier 3. Bürgerliche Tugenden mit Geselligkeit 3.1 Sekundärtugenden 3.2 Der elegante Magister 4. Vier Antriebskräfte 4.1 Aufklärung 4.2 Richterliche Kritik 4.3 Moral 4.4 Ortsgebunden und doch Kosmopolit I. Was kann ich wissen? Theoretische Philosophie 1. Der Mensch rückt ins Zentrum 2. Wider den Eigendünkel der Spekulation 3. Mathematik: kein Vorbild für die Philosophie 4. Aufwertung der Sinnlichkeit 4.1 Kants Aktualität 4.2 Neubewertung der Mathematik 4.3 Individualität 4.4 Apologie der Sinnlichkeit 5. Fundamentalbegriffe: Kategorien 6. Philosophische Naturgesetze 6.1 Fundamentalphilosophie ist erfahrungsunabhängig 6.2 Ein erstes Naturgesetz: Die Natur ist mathematisch verfaßt 6.3 Zwei weitere Naturgesetze: ein Substanz- und ein Kausalitätsprinzip 7. Zur Philosophie des Geistes 7.1 Überwindung einer Metaphysik des Geistes 7.2 Einsichten für die empirische Psychologie 7.3 Das Themenfeld erweitern 8. Astrophysik und Mikrophysik 8.1 Über Newton hinaus säkular 8.2 Biologie ist nicht Physik 8.3 Logik der Forschung: Abgrund der Unwissenheit 9. Revolution der philosophischen Theologie 9.1 Ein überholtes Thema 9.2 Ein Gottesbegriff für die Naturforschung 9.3 Weder die Existenz Gottes noch seine Nichtexistenz sind beweisbar 10. Zur Würde der Philosophie 10.1 Aufklärung, demokratisch 10.2 Ein epistemischer Kosmopolitismus 10.3 Metaphysik in nachmetaphysischer Zeit 10.4 Innerhalb der Theorie zur Praxis 10.5 Der weltbürgerliche Begriff der Philosophie 11. Ein Vorbild für wissenschaftliche Prosa? 11.1 Für Fachkollegen: ein ciceronisches Deutsch 11.2 Wahre Popularität 11.3 II. Was soll ich tun? Moral und Recht Kants Doppelrolle 1. Vorbild und Provokation 2. Nur eine neue Formel: Der kategorische Imperativ 2.1 Unbescheiden: Eine erfahrungsfreie Moralphilosophie 2.2 Drei Imperative, drei Freiheitsstufen 2.3 Bescheiden: Eine Entdeckung, keine Erfindung 2.4 Fünf Vorteile von Kants Maximene…