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Gormenghast - das mächtige, labyrinthische Schloß, der Stammsitz der Grafen Groan, gehört zwar keiner Zeit an und keinem bestimmten Ort, doch so, wie Mervyn Peake seine phantastische Geschichte erzählt, bleibt weiter nichts unbestimmt ...
Im Gegenteil: jede Szene wird grell ausgeleuchtet, wird geradezu furchterregend nahegerückt. Bewohnt wird das Schloß von erstaunlichen Figuren mit ausgesprochenen Mittelstandsallüren, die der Autor so dicht heranführt, daß man sie beinahe berühren könnte. Und den fetten Swelter zu berühren, die massige Lady Gertrude oder den spinnenhaften Mister Flay, das wäre in der Tat ein Schock.
Ein Fantasyroman voll schillernder Figuren und einem labyrinthischen Schauplatz, der skurriler nicht sein könnte. Mervyn Peakes zeitloses Meisterwerk ist das Vorbild für viele moderne Fantasyautoren.
»Gormenghast« ist von der Hand eines Zauberers geschrieben.
Vorwort
Neuausgabe mit einem Vorwort von Kai Meyer - neu durchgesehene Übersetzung
Autorentext
Mervyn Peake, geboren 1911 im Kaiserreich China, ist neben seinen literarischen Werken auch als Maler und Illustrator hervorgetreten. Mit »Gormenghast« wurde er international bekannt. Peake starb 1968 in Burford bei Oxford.
Leseprobe
Die Halle der Edlen Schnitzwerke
Gormenghast - oder genauer: Der größte Teil des alten Mauerwerks - hätte, für sich gesehen, eine bestimmte, eindrucksvolle Bauweise repräsentiert, wäre es nur möglich gewesen, jene umliegenden schäbigen Behausungen zu ignorieren, die sich wie eine krankhafte Wucherung um die Außenmauern legten. Sie breiteten sich über den Hang aus, eine jede halb über dem Nachbargebäude aufragend, bis die oberen Hütten, aufgehalten durch die Befestigungen der Burg, wie Napfschnecken am Felsen klebten. Aufgrund eines alten Gesetzes war diesen armseligen Behausungen die fröstelnde Nähe der über ihnen drohenden Festung gewährt. Zu allen Jahreszeiten fielen über die unregelmäßigen Dächer die Schatten der von der Zeit angenagten Zinnen, der zerfallenen und der hochaufragenden Türmchen und, am gewaltigsten, der Schatten des Pulverturms. Dieser Turm, ungleichmäßig mit Efeu bewachsen, erhob sich wie ein verstümmelter Finger aus einer Faust von knöchelartigem Mauerwerk und wies blasphemisch gen Himmel. Des Nachts verwandelten ihn die Eulen in einen hallenden Schlund; tagsüber ragte er stumm auf und warf seinen langen Schatten. Zwischen den Bewohnern jener äußeren Hütten und denen, die innerhalb der Mauern lebten, gab es kaum Umgang, außer wenn am ersten Junimorgen eines jeden Jahres sämtliche Bewohner der Lehmhütten Erlaubnis erhielten, den Besitz zu betreten und die Holzschnitzereien vorzustellen, an denen sie das ganze Jahr gearbeitet hatten. Diese Schnitzwerke, mit sonderbaren Farben bemalt, stellten gewöhnlich Tiere oder Menschen dar und waren in höchst einzigartiger Weise gestaltet. Der Wettbewerb um die besten Werke eines Jahres war hart und erbittert. Wenn die Tage der Liebe verronnen waren, galt die einzige Leidenschaft der dort lebenden Menschen der Herstellung jener Holzskulpturen, und in dem Durcheinander von Hütten am Fuß der Außenmauer lebten ein paar begabte Kunsthandwerker, deren Stellung als beste Schnitzer ihnen den Ehrenplatz unter den Schatten vergönnte.
An einer Stelle innerhalb der Großen Mauer, ein paar Fuß über dem Erdboden, bildeten die gewaltigen Quader, aus denen die Mauer erbaut war, einen riesigen Vorsprung, der sich von Ost nach West etwa zwei- bis dreihundert Fuß entlangzog. Diese vorspringenden Steine waren weiß bemalt, und auf eben diesem Mauervorsprung wurden am ersten Junimorgen eines jeden Jahres die Schnitzwerke aufgestellt, um vom Grafen Groan beurteilt zu werden. Die Werke, die man für die vollendetsten hielt - und das waren niemals mehr als drei -, wurden daraufhin in der Halle der Edlen Schnitzwerke aufgestellt.
Jene lebensvollen Objekte standen also reglos dort den ganzen Tag über, warfen an die dahinterliegende Mauer ihre phantastischen Schatten, die sich mit dem Sonnenlauf Stunde für Stunde bewegten und verlängerten, und strahlten trotz ihrer bunten Farben Düsternis aus. Die Luft zwischen ihnen war aufgeladen mit Verachtung und Hass. Die Künstler standen wie Bettler umher, um sich die schweigenden Familien geschart. Alle wirkten sie grob und frühzeitig gealtert. Jeglicher strahlende Glanz war verschwunden.
Die Schnitzwerke, die nicht erwählt worden waren, wurden noch am gleichen Abend im Hof unter dem Westbalkon des Grafen Groan verbrannt, und es herrschte der Brauch, dass der Graf während der Verbrennung dort stand und den Kopf wie im Schmerz gesenkt hielt; wenn dann von innen der Gong dreimal ertönte, wurden die drei von den Flammen verschonten Skulpturen hinaus ins Mondlicht getragen. Man stellte sie auf die Balustrade des Balkons, wo die unten versammelte Menge sie deutlich sehen konnte, woraufhin Graf Groan ihre Schöpfer aufrief. Nachdem sich diese sogleich unter ihm aufgestellt hatten, warf der Graf die traditionellen Pergamentrollen hinab, die, wie ihr Inhalt besagte, den Künstlern die Erlaubnis gaben, den Wehrgang über ihren Behausungen bei Vollmond eines jeden zweiten Monats zu betreten. In diesen festgelegten Nächten konnte ein Beobachter aus einem Fenster der Südfassade jene mondbeschienenen Gestalten betrachten, denen ihre Kunstfertigkeit diese so ersehnte Ehre verschafft hatte, wie sie auf der Festungsmauer auf- und abgingen.
Abgesehen von dieser Ausnahme am Tag der Schnitzwerke und der Freizügigkeit, die man den Hervorragendsten gewährte, gab es für diejenigen innerhalb der Mauern keine Gelegenheit, das Volk draußen kennenzulernen, noch waren die in den Schatten der Mauern Hausenden von irgendwelchem Interesse für die Welt dahinter.
Es war ein nahezu vergessenes Volk: ein Stamm, an den man sich mit Erstaunen erinnerte oder mit dem unwirklichen Gefühl eines wieder aufflackernden Traumes. Nur der Tag der Schnitzwerke brachte es ans Sonnenlicht und ließ die Erinnerung an frühere Zeiten wieder aufleben. Denn soweit sich selbst Nettel, der Achtzigjährige aus dem Turm oberhalb der vor sich hinrostenden Waffenkammer, erinnern konnte, hatte man diese Zeremonie immer schon abgehalten. Unzählige Holzskulpturen waren dem Gesetz getreu zu Asche vergangen, doch die ausgewählten standen immer noch in der Halle der Edlen Schnitzwerke.
Diese Halle im Obergeschoss des Nordflügels unterstand dem Kurator Rottcodd, der den Großteil seines Lebens in einer Hängematte am Ende der Halle verbrachte, da niemals irgendjemand diesen Raum aufsuchte. Wenn er auch ständig vor sich hindöste, soll er doch den Staubwedel nie aus den Händen gegeben haben, den Staubwedel, mit dem er die eine der beiden notwendig erscheinenden regelmäßigen Aufgaben in jener langen und stillen Halle vollzog, nämlich die Edlen Schnitzwerke vom Staub zu befreien.
Als Kunstgegenstände interessierten ihn die Arbeiten wenig, und dennoch hatte er gegenüber einigen der Schnitzwerke eine Art verwandtschaftlichen Gefühls entwickelt. Er arbeitete mehr als sorgfältig, wenn er das Smaragdpferd abstaubte. Auch dem schwarz-olivfarbenen Kopf gegenüber und dem Gescheckten Hai widmete er seine besondere Aufmerksamkeit. Was aber nicht bedeutete, dass sich vielleicht sonst irgendwo Staub niederlassen durfte.
Rottcodd betrat die Halle, jahraus, jahrein, winters und sommers, um sieben Uhr, schlüpfte aus seinem Jackett und zog sich einen langen grauen Kittel über, der formlos bis auf die Knöchel niederfiel. Es war seine Gewohnheit, den Staubwedel aus Federn fest unter den Arm geklemmt, einen scharfen Blick über den Rand seiner Brille die Halle entlang zu werfen. Rottcodds Schädel war dunkel und klein, wie eine verwitterte Musketenkugel, und die Augen hinter den blitzenden Gläsern zwei verkleinerte Versionen des Kopfes. Alle drei befanden sich ständig in Bewegung, als wollten sie die schlafend verbrachte Zeit wettmachen. Der Kopf wackelte mechanisch von einer Seite auf…