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Liebe, Mitgefühl und Schmerz sind im Leben das Wesentliche: Der gealterte Widerstandskämpfer Salvatore Roncone, der sein ganzes Leben als Bauer im kalabrischen Süden Italiens zugebracht hat, wird durch seinen Gesundheitszustand gezwungen, zu seinem Sohn in die Großstadt Mailand zu ziehen. Erst durch die Liebe zu seinem Enkelsohn entdeckt der alte Patriarch nie geahnte Seiten an den Menschen und an sich selbst. So darf er kurz vor seinem Tod die wahre Schönheit des Lebens erfahren und erkennt, dass ein Lächeln selbst den Tod überdauert, wenn man wirklich gelebt hat ...
"Ein wunderschöner Roman über Liebe und Menschlichkeit, mit sehr viel Respekt vor dem Alter. Die Geschichte ist anrührend, traurig und amüsant zugleich, kurz: ein Lesevergnügen!"
Autorentext
José Luis Sampedro wurde 1917 in Barcelona als Sohn eines kubanischen Vaters und einer algerischen Mutter geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte Sampedro in Tanger/Marokko. Sein Studium führte ihn unterbrochen vom Bürgerkrieg schließlich nach Madrid. Dort war er an der Universität tätig sowie in Wirtschaft und Politik. Sampedro war Mitglied der Real Academia Española und erhielt 2012 für sein Gesamtwerk den »Premio Nacional de las Letras Españolas«, den Nationalpreis der spanischen Literatur. Der 2013 verstorbene Schriftsteller und Ökonom gilt als einer der wichtigsten und einflussreichsten spanischen Intellektuellen der Gegenwart.
Leseprobe
Im Etruskischen Museum Villa Giulia dreht der Wärter in Abteilung V seine Runde. Der Sommer ist vorbei, die Touristenströme sind verebbt, die alte Eintönigkeit hält wieder Einzug. Heute aber hat ein bestimmter Besucher seine Aufmerksamkeit geweckt, und er kehrt mit wachsender Neugier zu dem kleinen Raum mit dem »Ehepaar« zurück. Ob er noch da ist? Er beschleunigt den Schritt und wirft einen Blick hinein.
Da ist er. Er sitzt immer noch auf der Bank vor dem etruskischen Sarkophag aus Terrakotta in der Mitte der Grabanlage. Das Prachtstück des Museums, ausgestellt wie in einem Schmuckkästchen in dem ockerfarbenen Raum, der der ursprünglichen Grabkammer nachempfunden ist.
Ja. Da ist er. Seit einer halben Stunde sitzt er reglos da, genau wie die beiden aus Feuer und Zeit gebrannten Figuren. Der braune Hut und das wettergegerbte Gesicht erinnern an eine Büste aus Ton. Diese ragt aus einem weißen, krawattenlosen Hemd, wie es bei den Alten im Süden Brauch ist. In den Bergen von Apulien, oder vielleicht auch in Kalabrien.
Was sieht er bloß in der Statue?, fragt sich der Wärter. Da er es nicht versteht, bleibt er unschlüssig stehen, falls plötzlich etwas passiert an diesem Morgen, der wie ein gewöhnlicher Morgen begann und doch ganz anders ist. Aber hinein wagt er sich auch nicht, zurückgehalten von einer unerklärlichen Scheu. So steht er am Eingang und beobachtet den Alten, der, ohne ihn wahrzunehmen, den Sarkophag mit dem menschlichen Paar betrachtet.
Die Frau liegt auf den linken Ellbogen gestützt, ihr Haar ist zu zwei Zöpfen geflochten, die über ihre Brust fallen. Die rechte Hand ist anmutig dem Gesicht mit den vollen Lippen zugewandt. Hinter ihr ruht in derselben Pose ein spitzbärtiger Mann mit lüsternem Mund und hat seinen rechten Arm um ihre Schulter gelegt. Die rötliche Färbung der beiden Terrakottakörper reflektiert den dunklen Hintergrund, dem die Jahrhunderte nichts anhaben können. Unter den schmalen, schräg stehenden Augen leuchtet in beiden Gesichtern dasselbe unbeschreibliche Lächeln. Weise und geheimnisvoll, sanft und sinnlich.
Verborgene Lichtquellen setzen die beiden Figuren kunstvoll in Szene; durch das Spiel von Licht und Schatten wirken sie faszinierend lebendig. Dagegen erscheint dem Wärter der versteinerte Alte im Halbdunkel wie eine Statue. Wie verzaubert, denkt er unwillkürlich und redet sich dann schnell ein, alles sei ganz normal, um sich zu beruhigen. Der Alte ist nur müde, und da er für den Eintritt bezahlt hat, will er sich auch hinsetzen. So sind die Leute vom Land nun mal. Nachdem eine Weile nichts passiert, geht der Museumswärter weiter.
Die Atmosphäre schließt sich noch dichter um die drei Gestalten in der Grabanlage, den Alten und das Paar. Die Zeit vergeht.
Bis die Verzauberung von einem jungen Mann aufgelöst wird, der auf den Alten zugeht.
»Endlich, Vater! Gehen wir. Tut mir Leid, dass Sie warten mussten, aber dieser Direktor ...«
Der Alte sieht ihn an. Der arme Junge, denkt er, immer nur Hetze und Entschuldigungen! Und das soll mein Sohn sein?
»Warte mal! Was ist das?«, fragt er ihn.
»Das da? Das Ehepaar. Ein etruskischer Sarkophag.«
»Ein Sarkophag? Eine Kiste für die Toten?«
»Ja, aber jetzt müssen wir wirklich gehen.«
»Hat man sie tatsächlich in dem Ding beerdigt, das wie ein Diwan aussieht?«
»Ein Triklinium. Die Etrusker haben im Liegen gegessen, wie die Römer. Eigentlich wurden sie auch nicht beerdigt. Man hat ihren Sarkophag in eine Grabkammer gestellt und sie von innen bemalt, wie ein Haus.«
»Wie die Gruft der Grafen Malfatti in Roccasera?«
»Ja, genau. Andrea kann es Ihnen sicher besser erklären. Ich bin kein Archäologe.«
»Deine Frau? Gut, ich werde sie fragen.«
Sein Sohn sieht ihn überrascht an. »So sehr interessiert es Sie?« Er wirft erneut einen Blick auf die Uhr.
»Bis Mailand ist es weit, Vater. Bitte.«
Der Alte steht langsam von der Bank auf, ohne den Blick von dem Paar zu wenden.
»Beim Essen hat man sie beerdigt!«, murmelt er verwundert und folgt widerwillig seinem Sohn.
Am Ausgang wechselt der Alte das Thema.
»Es ist nicht besonders gelaufen beim Direktor, stimmt's?«
Sein Sohn schneidet eine Grimasse.
»Na ja. Das Übliche, Sie wissen schon. Große Versprechungen, und dann ... Er hat Andrea sehr gelobt, das ja. Er hatte sogar ihren letzten Artikel gelesen.«
Der Alte erinnert sich, wie er kurz nach Kriegsende mit Ambrosio und einem anderen Partisanen (wie hieß er noch, der Albaner, der so gut schießen konnte? Verfluchtes Gedächtnis!) nach Rom kam, um einen Parteifunktionär von der Agrarreform für die Region der Kleinen Sila zu überzeugen.
»Hat er dich zur Tür gebracht und dir auf die Schulter geklopft?«
»Ja, sicher. Er war wirklich sehr nett.«
Sein Sohn lächelt, während der Alte die Stirn runzelt. Wie damals, sagt er sich. Erst nachdem es drei Tote gegeben hatte bei dem Protestmarsch von Melissa, in der Nähe von Santa Severina, sind die Politiker in Rom aufgewacht und haben etwas unternommen.
Sie kommen zum Parkplatz und steigen in den Wagen. Der Alte legt den Sicherheitsgurt an. »Alles nur Geldmacherei«, brummt er leise vor sich hin. »Nicht mal mehr sterben kann man, wie man will!«
Sie verlassen Rom auf der Autostrada del Sole. Kurz nachdem sie die Autobahngebühr bezahlt haben, dreht der Alte sich gemächlich eine Zigarette und kommt auf sein Thema zurück.
»Hat man sie tatsächlich zusammen beerdigt?«
»Wen, Vater?«
»Dieses Paar. Die Etrusker.«
»Keine Ahnung. Kann sein.«
»Wie denn? Sie sind doch nicht gleichzeitig gestorben, oder?«
»Nein, das wohl nicht. Ich weiß es nicht. Wenn Sie auf den Knopf da drücken, springt der Anzünder raus.«
»Ach, hör mir auf mit deinem Anzünder! Wo bleibt denn da der Reiz?«
In der hohlen Hand zündet er fachmännisch ein Streichholz an, wirft es aus dem Fenster und nimmt langsam den ersten Zug. Die Stille wird nur vom Geräusch des Motors, dem Summen der Reifen und hin und wieder einem aufdringlichen Hupen unterbrochen. Der Geruch nach schwarzem Tabak, der sich im Wagen ausbreitet, weckt in seinem Sohn Erinnerungen an die Kindheit. Unauffällig lässt er das Fenster ein wenig herunter. Der Alte sieht ihn an. Er hat sich nie an die feinen Gesichtszüge seines Sohnes gewöhnt, ein mütterliches Erbe, das mit den Jahren immer deutlicher hervortritt. Er ist ein verantwortungsvoller Fahrer, ganz auf die Straße konzentriert. O ja, verantwortungsvoll war er schon immer.
»Warum haben sie nur so ... na ja, so komisch gekichert? Noch dazu auf ihrem eigenen Grab…