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Wie lässt sich das normative Verhältnis von Grenze und Demokratie beschreiben? Auf der einen Seite sind Demokratien auf Grenzziehungen angewiesen und verweisen auf ein souveränes "Volk", das erst durch Abgrenzungen bestimmbar wird. Auf der anderen Seite implizieren demokratische Normen wie Freiheit und Gleichheit einen Universalismus, der sich jeder Grenzziehung verwehrt. Dieser Ambivalenz geht der Band nach. Er leistet nicht nur einen Beitrag zu gegenwärtigen Debatten über Demokratie innerhalb und jenseits des Staates, sondern berührt auch aktuelle Fragen zu Migrations- und Flüchtlingspolitik.
Autorentext
Nele Kortendiek ist Stipendiatin des Exzellenzclusters "Die Herausbildung normativer Ordnungen" an der TU Darmstadt. Marina Martinez Mateo ist Mitarbeiterin am Exzellenzcluster "Die Herausbildung normativer Ordnungen".
Klappentext
Wie lässt sich das normative Verhältnis von Grenze und Demokratie beschreiben? Auf der einen Seite sind Demokratien auf Grenzziehungen angewiesen und verweisen auf ein souveränes "Volk", das erst durch Abgrenzungen bestimmbar wird. Auf der anderen Seite implizieren demokratische Normen wie Freiheit und Gleichheit einen Universalismus, der sich jeder Grenzziehung verwehrt. Dieser Ambivalenz geht der Band nach. Er leistet nicht nur einen Beitrag zu gegenwärtigen Debatten über Demokratie innerhalb und jenseits des Staates, sondern berührt auch aktuelle Fragen zu Migrations- und Flüchtlingspolitik.
Leseprobe
Einleitung: Grenze und Demokratie
Marina Martinez Mateo und Nele Kortendiek
In der Demokratie ist eine strukturelle normative Ambivalenz angelegt. Als staatliches oder staatsähnliches System ist eine demokratische Ordnung auf Grenzziehung angewiesen, insofern sie innerhalb eines bestimmten Territoriums organisiert ist. Weitergehend ließe sich sogar annehmen, dass die Schließung nicht nur als Effekt der staatlichen Einbettung von Demokratie verstanden werden muss, sondern in der Idee von Demokratie selbst verankert ist: Soll sie Herrschaft des Volkes sein, muss dieses Volk zunächst bestimmt werden. Dazu wird es in jene, die Mitglieder sind und regieren dürfen, und solche, die davon ausgeschlossen sind, unterteilt. Demokratie beruht auf einer klar abgegrenzten Gemeinschaft und bedarf Mechanismen der Schließung, die diese Gemeinschaft konstituieren und als bestimmte aufrechterhalten. Demokratie ist somit eine Rechtfertigungsordnung für staatliche Grenzziehungen. Umgekehrt müsste aber gerade eine demokratische Praxis darin bestehen, abgegrenzte Ordnungen in Frage zu stellen und zu durchbrechen: Worin könnte der Demos politisch wirksamer sein als in seinem spontanen Aufbegehren gegen die Herrschaftsstrukturen des Staates und seine Grenzziehungen? Nimmt man die Bezugnahme auf Freiheit und Gleichheit in der Normativität von Demokratie ernst, so muss der Protest gegen den Ausschluss, der in der Unterscheidung von Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern enthalten ist, zumindest mitgemeint sein können. Demokratie ist also zugleich ein Rechtfertigungsnarrativ für die Formulierung normativer Ansprüche seitens derer, die sich als von der demokratischen Ordnung ausgeschlossen sehen. Von dieser Annahme ausgehend, lassen sich Praktiken der Grenzüberschreitung und -verwischung demokratisch deuten, auch wenn sie gar nicht so intendiert sein mögen. Es ließe sich dann von einem demokratisierenden Gehalt der Migration sprechen oder davon, dass Subjektivitäten, die zwischen den Welten entstehen, in besonderer Weise als zur Demokratie befähigt erscheinen.
Von dieser Ambivalenz zwischen demokratischer Grenzziehung und Entgrenzung wollen wir in diesem Sammelband ausgehen - nicht um uns auf eine der beiden Seiten zu schlagen und eine "gute" gegen eine "schlechte" Demokratie auszuspielen, sondern um zu zeigen, dass sie die Demokratie vor weitreichende Herausforderungen stellt. Aus dem wechselseitigen Verhältnis der Eingrenzung und Überschreitung ergibt sich eine "performative Spannung zwischen Rechtfertigungsansprüchen und geronnener Ordnung", der sich die Demokratie stellen muss, um ihrem normativen Gehalt politische Wirksamkeit zu verleihen. Dies ist die Perspektive, aus der heraus der vorliegende Sammelband entstanden ist. Er sucht nach kreativen Lösungsansätzen, um die widersprüchlichen normativen Anforderungen der Öffnung und Schließung miteinander ins Gespräch zu bringen.
Die besondere Dringlichkeit dieses Vorhabens zeigt sich derzeit insbesondere anhand der erstarkten Migrations- und Fluchtbewegungen, die von demokratischen Systemen einfordern, sich akut mit Fragen des Aus- und Einschlusses auseinanderzusetzen. Laut dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) kamen seit Beginn des Jahres 2015 knapp 1,4 Millionen Menschen über die See- und Landgrenzen nach Europa. 1,26 Millionen Menschen stellten einen Asylantrag in europäischen Mitgliedsstaaten. 10 Millionen Menschen waren im Jahr 2015 staatenlos, 24,5 Millionen Menschen auf der Flucht. Hinzu kommen zahlreiche undokumentierte Grenzüberschreitungen. Die UN sprechen für 2015 von insgesamt 244 Millionen Migrant_innen, dem höchsten Stand seit Beginn der 1960er Jahre. Diese Zahlen spiegeln das Ausmaß menschlicher Mobilität, die sich von geographischen Grenzlinien nicht aufhalten lässt und auch durch intensivierte staatliche - zum Teil extraterritorial organisierte - Grenzkontrollen nicht zu verhindern ist (für eine exemplarische Beschreibung unautorisierter Grenzüberschreitungen trotz begrenzender Politiken siehe Picozza in diesem Band). Migrationsforscher_innen stellen angesichts dieser konstanten und weltumfassenden Bewegungen fest, dass Migrationspolitiken, die auf die Begrenzung eines Zustroms von Menschen zielen, ins Leere laufen, da die Adressat_innen dieser Regelungen, als aus dem Demos Ausgeschlossene, die Legitimität und folglich die Autorität dieser nationalen Abgrenzungsanweisungen nicht anerkennen.
Migrant_innen entziehen sich in ihren Grenzübertretungen also staatlichen Kontrollen und Herrschaftsansprüchen und verlangen gleichzeitig nach politischer und sozialer Integration. Auf Grundlage der Kernnormen demokratischer Ordnungen formulieren sie normative Ansprüche, denen diese Ordnungen als solche nicht entsprechen (können). Sollten Demokratien in der Folge die Normalität der Migration anerkennen und die Prämisse der Sesshaftigkeit, die tief im Rechtfertigungsnarrativ des Nationalstaates und der Demokratie verankert ist, aufgeben? Da wir im "Zeitalter der Migration" leben, sollte möglicherweise auf jede Eingrenzung von demokratischen Ordnungen verzichtet werden. Zugleich rüttelt dies auf fundamentale Weise an der Normativität der Demokratie selbst, denn dies kann nicht geschehen, ohne die Idee der Selbstregierung bis zur Unkenntlichkeit auszuhöhlen. Wie ist also damit umzugehen, dass einerseits physische Grenzziehungen stets überschreitbar zu sein scheinen und andererseits die Rechte und Werte, die staatlich organisierten Demokratien das normative Fundament bieten, an Staatsbürgerschaft gekoppelt sind?
Bestehende Demokratien werden durch Flucht- und Migrationsbewegungen ganz praktisch und akut vor die Frage gestellt, wie mit den widersprüchlichen Anforderungen der Grenzöffnung und -schließung umzugehen ist. Die politischen Antworten darauf, die derzeit dominieren, gravitieren allerdings weg von einer möglichen Öffnung hin zu einer zunehmenden Abgrenzung nach außen. In demokratischen Volksabstimmungen äußerten sich zuletzt die Bürger_innen der Schweiz und Großbritanniens in den Referenden zur "Ausschaffungsinitiative" und zum "Brexit" gegen eine zunehmende Integration von Zugezogenen. Sie stimmten für eine erleichterte Abschiebung von Ausländer_innen bzw. für einen nationalen Ausschluss aus der supranationalen politischen Gemeinschaft der Europäischen Union (EU), um einer weiteren Immigration zu entgehen. Auch in dem…