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Von den expressionistischen Morgue-Gedichten bis zur späten Lyrik der fünfziger Jahre enthält der Band einen repräsentativen Querschnitt durch Gottfried Benns lyrisches Werk, ergänzt durch den berühmten Vortrag von 1955: Soll die Dichtung das Leben bessern?
Autorentext
Gottfried Benn, 2. 5. 1886 Mansfeld (Westprignitz, Nordwestbrandenburg) - 7. 7. 1956 Berlin.
B.s Vater war lutherischer Pfarrer, die Mutter eine aus der romanischen Schweiz stammende Erzieherin. Nach dem Abitur 1903 in Frankfurt a. d. O. studierte B. zunächst Theologie und Philosophie in Marburg und Berlin, wechselte dann 1905 zur Medizin (Kaiser-Wilhelm-Akademie für das militärische Bildungswesen). 1910 schloss er das Studium ab und arbeitete 1910-11 als Unterarzt in der Berliner Charité, dann 1911-12 als Militärarzt in Prenzlau. Im Februar 1912 promovierte er zum Dr. med. Aus Gesundheitsgründen verließ er den Militärdienst und war in den folgenden Jahren an verschiedenen Berliner Kliniken und als Schiffsarzt (1914) tätig. Bei Kriegsbeginn heiratete er Edith Osterloh; sein einziges Kind, Nele, wurde 1915 geboren (seine Frau starb 1922; später - 1938 bzw. 1946 - ging er zwei weitere Ehen ein). Von 1914 bis 1917 war er Militärarzt in Belgien; 1917 ließ er sich als Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten in Berlin nieder. 1932 wurde er in die Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Wissenschaften gewählt, die er nach dem Austritt Heinrich Manns im März 1933 für einige Monate kommissarisch leitete. Sein Eintreten für den Nationalsozialismus wich bald einer entschiedenen Ernüchterung. Auch um sich vor Angriffen zu schützen, ließ er sich wieder aktivieren (die aristokratische Form der Emigrierung) und arbeitete seit 1935 als Oberstabsarzt in Hannover und seit 1937 in Berlin. 1938 erhielt er mit dem Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer Publikationsverbot, 1943-45 wurde er nach Landsberg a. d. W. verlegt. Er kehrte 1945 nach Berlin zurück, wo er nach dem Krieg weiter praktizierte. 1951 wurde er, nachdem die anfängliche Zurückhaltung wegen seiner problematischen Haltung im Dritten Reich gewichen war, mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.
Erfahrungen seines Berufslebens gingen in seine aufsehenerregende erste kleine Gedichtsammlung Morgue ein, deren Texte mit ihren makabren Gegenständen, ihrer krassen Sachlichkeit, ihrer 'Ästhetik der Hässlichkeit' und ihrer provozierenden, montagehaften Darstellungsweise nicht nur den bürgerlichen Vorstellungen von Dichtung widersprachen, sondern darüber hinaus das bürgerliche Weltbild mit seinem Wissenschafts- und Fortschrittsglauben und seinem Verständnis von Tugend und Moral grundsätzlich in Frage stellten. B. setzte in weiteren Gedichtbänden, in denen sich auch der Ein uss der mit ihm 1912/13 in einem Liebesverhältnis verbundenen E. Lasker-Schüler spiegelt, die Destruktion der bürgerlichen Scheinwelt fort: Wirklichkeitszertrümmerung nannte er später sein poetisches Verfahren. Auch seine erzählenden Texte, die an C. Einsteins Vorstellungen von einer autonomen Prosa anknüpfen, zeigen am Beispiel des Arztes Werff Rönne, für den Ich und Welt, Sprache und Wirklichkeit auseinander treten, den Zerfall der Wirklichkeit, der mit einer Regression des Ich in eine innere Schicht mythischer Bilder und archaischer, dionysisch-rauschhafter Visionen und Träume korrespondiert. In den 20er-Jah-ren festigten Sammlungen von Gedichten und Prosawerken B.s literarische Stellung; außerdem schrieb er für Paul Hindemith den Text für das Oratorium Das Unaufhörliche (UA 1931). Doch eine neue produktive Phase begann erst mit der durch das Schreibverbot erzwungenen Isolation: B. zog sich aus der deprimierenden Realität des Dritten Reiches auf sich selbst und die Kunst zurück. Das Gedicht Einsamer nie re ektiert diesen Dualismus von Kunst und Leben, der B.s Doppelleben im Dritten Reich charakterisiert. Ausdruck ndet diese Haltung dann in den in diesen Jahren entstandenen Statischen Gedichten, mit deren Erscheinen 1948 B.s Nachkriegswirkung begann: Kunstwerke sind statische Gebilde, widerstehen der Zeit und geschichtlichen Veränderungen, haben eine Schutzfunktion gegen die Welt. Dabei kommt im Bereich des Geistes der Form die entscheidende Bedeutung zu: Form ist der höchste Inhalt. B.s Nachkriegsplädoyer für die Tradition des modernen artistischen Gedichts übte große Wirkung auf die zeitgenössische Lyrik aus, die er selbst mit weiteren Gedichtbänden bereicherte. Gleichzeitig mit der Arbeit an den Statischen Gedichten entstanden drei Prosawerke, die B.s späte 'absolute Prosa' repräsentieren: eine monologische Abrechnung mit der weißen Rasse und insbesondere den Deutschen vor dem Hintergrund einer Geschichte ohne Sinn (Weinhaus Wolf), eine in freier Assoziation errichtete poetische Welt als Gegenentwurf gegen die konventionellen Ordnungsmuster (Roman des Phänotyp) und ein Dokument des elitären Ästhetizismus, das zugleich die trostlose Lage im Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit re ektiert (Der Ptolemäer).
In: Reclams Lexikon der deutschsprachigen Autoren. Von Volker Meid. 2., aktual. und erw. Aufl. Stuttgart: Reclam, 2006. (.) - © 2001, 2006 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart.
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