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Ferdinand Sutterlüty führt mitten in die Probleme des Zusammenlebens unterschiedlicher ethnischer Gruppen in Deutschland. Am Beispiel von zwei ehemaligen Arbeitervierteln zeigt er die vielfältigen Muster »negativer Klassifikationen« auf, mit denen Einheimische und Türkischstämmige ihre wechselseitige Geringschätzung ausdrücken. Beide Seiten sind noch immer von einem sippenhaften Denken durchdrungen. Die türkischen Bewohner stellt dies vor hohe Integrationshürden, da ihnen häufig die Berechtigung zu wirtschaftlicher Teilhabe, politischer Beteiligung und sozialer Zugehörigkeit abgesprochen wird. Erkennbar wird zudem ein seltsames Paradox: Die Migranten, die zu den besten Aspiranten auf Integration zählen, sind bevorzugt Ziel von Stigmatisierung, bedrohen sie doch vermeintlich am stärksten den Status der Einheimischen.
Vorwort
Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie Herausgegeben von Axel Honneth im Auftrag des Instituts für Sozialforschung, Frankfurt am Main
Autorentext
Ferdinand Sutterlüty ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Familien- und Jugendsoziologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Leseprobe
1 Einleitung Klassifizieren, Kategorisieren, Ein- und Aussortieren das scheint einer individualistischen und inklusiven Gesellschaft zuwiderzulaufen, in der jeder sich selbst erfinden und in seiner Eigenart dazugehören können soll. Kollektive Klassifikationen sind jedoch bis heute eine allgemeine gesellschaftliche Tatsache geblieben. Sie sind konstitutiv für unsere soziale Wahrnehmung und wie selbstverständlich in das Alltagshandeln inkorporiert, solange keine Akteure sie problematisieren und ihre Legitimität in Frage stellen. Dass wir einen kategorialen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen machen und daher von ihnen nicht dasselbe erwarten, lenkt beispielsweise unser Denken und Handeln in einer Weise, dass wir uns kaum noch vorzustellen vermögen, Kinder wie in früheren Zeiten als kleine Erwachsene zu behandeln (vgl. Ariès 1975; Dornes 2006). Andere Klassifikationen, namentlich solche, die sich an soziale Ungleichheiten und ethnische Differenzen heften, erweisen sich hingegen häufig als hochproblematisch und als Auslöser gesellschaftlicher Bewertungskämpfe. Die Sozialstruktur moderner Gesellschaften ist nämlich nicht nur von Bildungs-, Besitz- und Einkommensunterschieden zwischen sozialen Schichten und Berufsständen, zwischen den Geschlechtern, Generationen und ethnischen Gruppen geprägt. Mit objektiven Differenzen gehen immer auch Deutungen und Wertungen einher, die den sozialen Austausch bis in die kleinsten lebensweltlichen Episoden hinein formen und in den »täglichen Klassenkampf« (Bourdieu 1992: 148) eingehen. Der Sozialstruktur entspricht stets eine symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit (Bourdieu 1987: 246 ff.; Neckel 1991: 231 ff.; Neckel und Sutterlüty 2005: 409 ff.; Sutterlüty und Neckel 2006: 798 ff.), die auf allen Ebenen der alltäglichen Interaktion und in der kommunikativen Praxis gesellschaftlicher Institutionen erzeugt und reproduziert wird (vgl. Collins 2000; Douglas 1991). Symbolische Ordnungen teilen ungleichen Sozialgruppen etwa Gebildeten und Ungebildeten, Arbeitenden und Arbeitslosen, Einheimischen und Fremden in unterschiedlicher Weise Anerkennung und Missachtung zu. Dies geschieht insbesondere durch Klassifikationen, das heißt kategorisierende Zuschreibungen und Bewertungen. An historischen Unterscheidungen zwischen »Zivilisierten« und »Barbaren«, »Rechtgläubigen« und »Ketzern« oder »respektablen« und »gefährlichen Klassen« wird besonders augenfällig, wie machtvoll sich Klassifizierungen auf die gesellschaftliche Stellung und Behandlung von Personen und Gruppen auswirken können. Gegenüber den negativ Klassifizierten kulturfremden Völkern im Zeitalter der Kolonialisierung, Andersgläubigen während der langen Ära der Inquisition oder pauperisierten Bevölkerungsteilen vor und nach der industriellen Revolution wurden ansonsten weithin gültige Standards des zivilen Lebens suspendiert (Fischer 1982: 33 ff.; Osterhammel 2006: 19 ff.; Angenendt 2007: 231 ff.). Die erniedrigenden und gewaltförmigen Praktiken des Kolonialismus, der Inquisition und der Armendisziplinierung verurteilen wir heute als ebenso inakzeptabel wie die ihnen zugrunde liegende Vorstellung einer prinzipiellen Ungleichwertigkeit zwischen Ethnien und Kulturen, Religionen und sozialen Klassen. In westlichen Demokratien, die sich von der Idee einer naturgegebenen oder gottgewollten Ordnung verabschiedet haben und auf der Prämisse der menschlichen Selbstgesetzgebung gründen (Certeau 1988: 147 ff.; Habermas 1989: 11 ff.), sind soziale Klassifikationen und aus ihnen hervorgehende symbolische Ordnungen besonders häufig umkämpft. Sie unterliegen einem hohen Legitimationsdruck. Personen, Gruppierungen und Institutionen, die bestimmte Bevölkerungsgruppen als ungleichwertig kategorisieren und behandeln, machen sich angreifbar, weil sie damit normative Standards unterlaufen, die für moderne Gesellschaften westlichen Typs konstitutiv sind. Gleichwohl kennen diese Gesellschaften weiterhin negative Klassifikationen, denn wo es eine normative Ordnung anerkannter Orientierungen, Handlungen und Leistungen gibt, müssen auch Klassifizierungen vorhanden sein, die Ablehnung und Missbilligung zu erkennen geben. So diskreditiert das Prinzip der Gleichwertigkeit aller Menschen notwendigerweise den »Rassisten«, und die in dieser Bezeichnung enthaltene Negativbewertung wird durchweg als legitim angesehen. In ihr kommt eine fundamentale und weithin anerkannte Norm zum Ausdruck, die etwa auch im Artikel 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland verankert ist und Eingang in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006 gefunden hat. Degradierende Wertungen, die sich mit sozialen Ungleichheiten jeglicher Art verbinden, sind jenseits formeller Diskriminierungsverbote und Antidiskriminierungsgesetze auch in den Sphären informeller Kommunikation notorisch umstritten. Dies hat wesentlich damit zu tun, dass sich im nachmetaphysischen Zeitalter die Beweislast für die Rechtfertigung von Ungleichheit umgekehrt hat; »erklärungsbedürftig« ist nun, wie Gertrud Nunner-Winkler (1997: 364) schreibt, »die Abweichung vom Gleichheitsprinzip und nicht dessen Unterstellung«. Vor einem solchen Hintergrund werden negative Zuschreibungen an die Adresse sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen legitimationspflichtig nicht zuletzt deswegen, weil sie deren Chancen auf die Aneignung materieller Güter, die Ausübung politischer Partizipation und den Zugang zu begehrenswerten Sozialbeziehungen weiter einzuschränken drohen. In der Tat können sich mit positiven oder negativen Attributen versehene Klassifikationen mehr oder weniger direkt auf die objektive Struktur sozialer Ungleichheiten sowie auf die Integrationschancen der betroffenen Sozialgruppen auswirken. Das Verhältnis zwischen der Sozialstruktur und ihrer Deutung ist jedoch weder als ein deterministisches noch als ein einseitiges zu begreifen. Gesellschaftliche Strukturen und deren Wandel können ganz unterschiedliche Auswirkungen auf die symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit haben, während sich umgekehrt die Struktureffekte klassifikatorischer Wirklichkeitsdeutungen nur durch die historisch konkrete Analyse entsprechender Konstellationen und Konfliktverläufe bestimmen lassen (vgl. Neckel und Sutterlüty 2008: 22 ff.). Gegenstand dieser Studie sind »negative«, also abwertende oder diskriminierende Klassifikationen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen in sozial benachteiligten und ethnisch gemischten Stadtteilen. Ihre gesellschaftliche Relevanz begründet sich aus der drängenden Frage nach der Entwicklungsdynamik und Sozialintegration von Stadtgebieten, deren Bewohnerschaft sich vornehmlich aus Zugewanderten und unterprivilegierten Einheimischen zusammensetzt. Ehe ich die Fragestellung der Untersuchung genauer erläutere (1.3), aus der dieses Buch hervorgegangen ist,…