Sarah Contis dritter Fall | Ein hochgelobter Psychiater wurde grausam ermordet. Hinweise auf den Täter und sein mögliches Motiv sind kaum auszumachen.
Es sind die heißesten Tage des Jahres, und nach einer unheilvollen Gewitternacht stehen Sarah Contis Kollegen mit einem neuen Fall vor der Tür. Alle Indizien am Tatort weisen auf brutalen Mord. Auf der Suche nach dem Motiv begibt sich Sarah Conti zunächst auf die Spuren des Opfers ein angesehener Psychiater, dessen Leben in bester Ordnung gewesen zu sein schien: eine glückliche Familie in einem beschaulichen Zuhause, ein herausragender Posten in einer psychiatrischen Privatklinik und zahlreiche Bewunderer seiner fachlichen Expertise. Doch nach und nach bekommt die Fassade Risse, und das Opfer offenbart sein zweites Gesicht.
»Und wieder ist [Martin Meyer] ein feingeistiger Roman gelungen, der mit der kultivierten, durch und durch sympathischen Ermittlerin überzeugt.« Karin Breyer, 50plus Magazin, 01.09.2024
Autorentext
Fabio Lanz ist das Pseudonym des Publizisten und Autors Martin Meyer. Geboren in Zürich, durchlief er eine Karriere in diversen Tätigkeiten, bevor er das Schreiben entdeckte. Dabei entwickelte sich sein Blick für das Schöne und das Böse. Fabio Lanz lebt in Zürich und in der Provence. Nach Ein kaltes Herz (2021) und Das Fallbeil (2023) erscheint 2024 mit Ikarus der dritte Band seiner Zürich-Krimireihe.
Leseprobe
Prolog
Die junge Frau war erschöpft. Zwar hatte sie schon viel gesehen, aber nur selten ließ sie zu, dass die Bilder den Panzer durchdrangen, der sie vor unerwünschten Gedanken schützte. Sie hatte sich auf eine Bank im Wald gelegt. Es war ihr bevorzugter Platz, um nachzudenken, um Kraft und Wut zu sammeln. Ohne Wut ging nichts. Irgendwann war sie zur Droge geworden. Doch während die anderen Drogen fürs Abschalten waren und für die Träume, die unbeherrschbar blieben, steuerte die Wut nach außen. Manchmal geradezu wild. Dröhnend. Dann wäre die junge Frau zu allem fähig, sie könnte jeden Feind niederschlagen, jeden Spießer vor den Zug stoßen, sogar der eigenen Mutter die Meinung entgegenschreien, wenn sie noch leben würde.
Jetzt, in diesem Moment, unter den Buchen im Wald, war die Wut fast aufgezehrt. Wie etwas, das sich schmollend verzogen hatte, weil der Trägerin die Energien ausgegangen waren. Der Abend war angebrochen, die Luft stand still, es war noch immer viel zu warm, von der Stadt war nichts zu hören und wenig zu sehen, nur die Trams kreischten durch die Kurven, und von sehr fern vibrierte eine Sirene.
Die letzte Nacht war übel gewesen. Beim Gedanken daran spürte sie, wie die Wut sich leise wieder in ihr regte. Sie richtete sich auf und hob den Rucksack aus schwarzer Jute, den sie neben sich gelegt hatte, auf die Bank. Sie fühlte sein Gewicht, atmete schwer und versuchte mit fahrigen Fingern die Schlaufe zu öffnen. Sie fühlte sich alt. Was konnte das Leben noch bieten, wenn das Öffnen eines Rucksacks zur Schwerstarbeit geworden war? Was hatte die Oma sie gelehrt? Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Es ging nicht lange, bis sie den Spruch zu verfluchen begann. Das Gegenteil war richtig, denn erstens gab es diesen Gott gar nicht. Und zweitens hatte sie zwar versucht, sich selbst zu helfen, aber es war immer öfter in die Hosen gegangen. Pech gehabt. Je mehr sie den Eindruck hatte, dass sie eine Sache oder einen Menschen in den Griff bekam, umso heftiger fiel die Quittung aus.
Als sie die Schlaufe endlich gelöst hatte, hörte sie ein Geräusch. Sie war empfindlich, wenn ein Geräusch nicht stimmte. Bei diesem Geräusch, das langsam stärker wurde, war sie sich unschlüssig, ob es ein falsches war. Falsche Geräusche, so hatte sie lernen müssen, gingen an den Körper oder an die Seele, und zwar so, dass es übel endete. Setzte die Mutter die Kaffeetasse mit einem bestimmten Schwung auf den Teller, gab es Ärger. Fuhr der Schlüssel von Mutters Freund mehrmals um das Schloss, bis sich die Türe doch noch öffnete, folgten Schläge, weil der Hausfreund besoffen war.
Fehlalarm. Zuerst kam ein Hund, ein heller Retriever, der sie ungläubig anstarrte und gleich darauf im Buschwerk verschwand, bevor sein Gebieter heranstapfte, ein alter Mann mit Schlapphut und Stock, der ebenfalls überrascht schien, doch halbwegs freundlich nickte und eilig von dannen zog. Das scheuernde Geräusch, das der Hund zwischen den Stauden produziert hatte, bevor er plötzlich vor ihr aufgetaucht war, hörte sich in der Fortsetzung und aus dem Waldesinneren nur noch wie ein feines Wischen an, das gleich weg sein würde. Das Abenteuer hatte keine fünf Minuten gedauert.
Sie hätte ihr Messer nicht gebraucht, zum Glück. Denn es war ihr nicht gelungen, den Rucksack rechtzeitig zu öffnen.
Auf einem Trip waren fünf Minuten eine Ewigkeit. Es kam auf den Stoff und auf den Mix an, klar. Aber so oder so, die Zeit geriet wirklich aus den Fugen, was sie ja gewollt hatte. Jedenfalls zu Beginn, als sie geglaubt hatte, Herrin über ihre Exkursionen zu sein. Schluss mit den Vorschriften, den Zwängen, den Befehlen, dem ganzen Mief aus Alltag und Bosheit. Aber eines Morgens, als sie sich wieder einmal hundeelend gefühlt hatte, hatte sie sich einen Ruck gegeben.
Seither war sie zwar keineswegs clean, aber sie hatte sich einen Entscheidungsspielraum erkämpft, eine fragile Autonomie, die sie hütete wie ihr zweites Selbst.
Früher war sie eine gute Schülerin gewesen. Es war ihr leicht gefallen, Dinge auswendig zu lernen und Wissen zu verknüpfen. Manche hatten sie beneidet, während sie sich schneller langweilte, als ihr lieb war. Dann begann sie Intrigen zu spinnen, die einen gegen die anderen aufzubringen, weniger aus Bosheit als aus der Neugier heraus, was sich daraus entwickeln würde. Viele, so kapierte sie dann, hatten wenig bis nichts dagegen, wenn man sie ein bisschen manipulierte. Führung tat nicht weh, wenn man es geschickt machte, und ein gewisser Halt war durchaus willkommen. Als sie spürte, dass sich auch die Jungs beeinflussen ließen, wenn man ihnen den Schmus brachte, hatte sie eine neue Art von Macht erreicht, die von den Lehrern zuerst beargwöhnt und schließlich unterhöhlt wurde. Man versuchte, nicht ohne Erfolg, sie zu isolieren.
Wieder schreckte sie auf. Von irgendwoher knallten Schüsse. Offenbar hatten sich die Schützen in ihrem Stand eingerichtet, denn die Schüsse fielen bald mehr oder weniger regelmäßig und in einem Rhythmus, der alle Schweizer Schützenvereine auszeichnete. Zuerst wurde geredet, dann wurde abgedrückt, dann wurde wieder geredet, und zwischendurch aß man sich durch Berge von Bratwürsten. Im Hintergrund orgelte Volksmusik.
Sie holte das Smartphone aus der Seitentasche des Rucksacks. Sie hatte es in ein Futteral aus Kunststoff gesteckt, dessen Außenseite ein Smiley mit Vampirzähnen zierte. Rasch überflog sie die Nachrichten. Seit der letzten Nacht hatte sich wenig geändert. Nochmals stieg Wut auf, die gleich wieder verflachte. Der Kerl, den sie in der vergangenen Nacht abgeschleppt hatte, war gar nicht so übel gewesen. Überdies hatte er ihr gleich zu Beginn dreihundert Franken zugesteckt. Ein königliches Honorar.
Sie öffnete Google Maps. Zuerst nahm sie sich den Stadtplan vor, wie er sich im Bild der Straßen und Plätze darbot. Dann wechselte sie in die Satellitenansicht. Mit einem Schlag verwandelte sich alles in eine Luftbild-Perspektive, aus der sich die Grünflächen der Stadt Zürich geradezu gierig hervordrückten. Sollte noch mal jemand sagen, Zürich sei eine Betonwüste. Mancherorts schon, doch selbst in der Innenstadt und in den Vororten erst recht war Grün die Zauberfarbe, vor der sich die Verkehrswege, die Häuser und die unzähligen Kirchen mit Stolz in Position brachten.
Verdammter Frieden , fluchte sie vor sich hin. Alles nur Lug und Trug. Aber wartet nur, meine Lieben.
Vielleicht gäbe sie eine gute Terroristin ab. Nicht zu warm, nicht zu kalt. Kalt und kalkuliert im Kopf, warm und beherzt in der Seele, um das Feuer des…
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