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Verdinglichung gilt als Schlüsselbegriff der kritischen Gesellschaftstheorie. Jüngere Arbeiten über die soziale Bedeutung der Dinge haben jedoch Zweifel aufkommen lassen, ob jeder Vorgang der Verdinglichung tatsächlich eine Entfremdung darstellt. Diese Studie nimmt die Verdinglichungskritik auf und zeigt im Anschluss an G. W. F. Hegel und Marcel Mauss, dass eine durch Dinge vermittelte Praxis sowohl den Grund des Sozialen als auch der individuellen Freiheit bildet.
»Das Buch entwickelt eine überaus fruchtbare und anregende These bezüglich der Kritik der Verdinglichungskritik und der Rehabilitierung der Dinge gegenüber der reinen Intersubjektivität und die Entwicklung eines positiven Verdinglichungsbegriffs. Es setzt bei den Gründungsvätern der Frankfurter Schule neu an, um anders als Habermas und Honneth über sie hinauszugehen. [] Das sind Vorgaben und Anregungen genug für viele weitere Forschungen und Diskussionen auf allen diesen Feldern.« Andreas Arndt, Soziopolis, 28.11.2019
Autorentext
Dirk Quadflieg ist Professor für Kulturphilosophie und -theorie am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig.
Leseprobe
Vorwort Dinge haben in der Sozialphilosophie einen schweren Stand. Sofern sie überhaupt Beachtung finden, tauchen sie zumeist als Objekte instrumentellen Handelns, als bloße Mittel menschlicher Zwecke oder als Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse auf. Als Gegenstände sind sie im Wortsinne das, was den Subjekten gegenüber oder entgegen steht, ihr anderes, dessen absolut abgeleitete Position in Fichtes Rede von einem »Nicht-Ich« ausgesprochen ist. Dass eine solche reine Negationsbestimmung zugleich eine normative Abwertung bedeutet, zeigt sich nicht zuletzt am Begriff der Verdinglichung, der in der Tradition der Kritischen Theorie für Entfremdungsphänomene und soziale Pathologien einsteht. Im Verdinglichungsbegriff kommt den Dingen offenbar der Status eines ultimativen Nullpunktes zu, auf den Personen oder menschliche Beziehungen keinesfalls reduziert werden dürfen. Menschen wie Dinge zu behandeln oder soziale Beziehungen allein unter sachlichen Aspekten wahrzunehmen, gilt sicherlich zu Recht als Ausdruck von Missachtung. Doch so selbstverständlich uns die Ablehnung einer solchen verdinglichenden Einstellung ist, so unklar wird bei näherem Hinsehen ihre Bedeutung und Begründung. Damit die Vertauschung von Personen und Dingen über eine verkennende Fehldeutung hinaus zu einem normativen Problem werden kann, bedarf es einer Reihe von Hintergrundannahmen, die alles andere als einfach zu bestimmen sind (vgl. unter anderem Jaeggi 1999; Stahl 2011). Selbst wenn man einmal unterstellt, die Unterscheidung zwischen menschlichen Wesen und Dingen sei klar und eindeutig was sie nicht ist , ergibt sich daraus allein jedenfalls noch kein normatives Kriterium, um eine Verkehrung als Missachtung oder Pathologie zu beurteilen. Tatsächlich erweist sich schon die Bestimmung einer Grenze als schwierig, denn auch lebendige, geistige Wesen ragen mit ihrem Körper in den Bereich des Dinglichen. Die daraus resultierende Asymmetrie der Unterscheidung zeigt sich etwa darin, dass eine »Vermenschlichung« nicht-menschlicher Gegenstände keine vergleichbar negative Wertung erfährt wie die Verdinglichung. Aber nicht nur, weil die Subjekte mit ihrer körperlichen Seite dem Reich der Dinge angehören und nur als verkörperter Geist existieren können, bedarf eine gesellschaftskritische Konzeption der Verdinglichung der Präzisierung. Versucht man einmal, sich soziale Zusammenhänge vorzustellen, die vollkommen ohne die Anwesenheit von Dingen geschehen, wird schnell deutlich, dass sich auch keine zwischenmenschlichen Situationen denken lassen, in denen nicht immer schon Gegenständliches involviert wäre. Zwar lässt eine solche Feststellung noch sehr viel Interpretationsspielraum für die Bedeutung, die den Dingen in sozialen Verhältnissen zukommt. Dennoch ist die Annahme wohl nicht unbegründet, dass das soziale Leben genauso wie das individuelle auf eine Verkörperung in dinglichen Verhältnissen angewiesen ist. Die These, die ich im Folgenden in Auseinandersetzung mit verschiedenen sozialtheoretischen Positionen entwickeln möchte, geht allerdings noch einen Schritt über diese Annahme hinaus: Sie besagt, dass die soziale Vermittlung notwendigerweise einen spezifischen Prozess der Verdinglichung voraussetzt. Erst wenn geklärt ist, worin ein solches verdinglichendes Moment besteht, lassen sich Kriterien skizzieren, die es einer kritischen Gesellschaftstheorie weiterhin ermöglichen, Formen einer missachtenden oder repressiven Verdinglichung zu identifizieren und zurückzuweisen. Den Hintergrund dieser These bildet ein zentraler Topos der modernen Gesellschaftstheorie, den bereits John Stuart Mill vorausschauend als »Lebensfrage der Zukunft« bezeichnet hat: die Frage nach der Möglichkeit und den Grenzen »sozialer Freiheit«, das heißt einer Freiheit, die den Individuen nur als Mitgliedern einer Gesellschaft zukommt (vgl. Mill 1974 f.). In der liberalen Tradition, der Mill entstammt, ging es dabei vor allem darum, die Macht der Gemeinschaft gegenüber der Freiheit der Einzelnen so auszubalancieren, dass diese genügend Freiraum zur Entfaltung ihrer je besonderen Interessen und Fähigkeiten erhalten und dennoch durch eine staatliche Gewalt vor Übergriffen durch andere geschützt sind. Dieses liberale Modell sozialer Freiheit hat insbesondere durch die Philosophie Hegels eine Radikalisierung dahingehend erfahren, dass auch die individuelle Freiheit, die stets als vorgesellschaftliche Tatsache angesehen wurde, nur innerhalb gesellschaftlicher Verhältnisse und in Beziehung mit anderen verwirklicht werden kann (vgl. Neuhouser 2000: Kap. 1; Honneth 2011). In der Hegelschen Traditionslinie bedeutet soziale Freiheit deshalb keine Einschränkung einer vorhergehenden natürlichen Freiheit, sondern bezeichnet die allgemeine Form, in der die Individuen einen freien Willen ausbilden können. Aus der Perspektive eines solchermaßen erweiterten Begriffs sozialer Freiheit gewinnen dann gesellschaftliche Institutionen und allgemeine Medien an Bedeutung, auf deren Grundlage die Subjekte in eine Interaktion mit anderen, sich selbst und der Welt treten können. Geht man weiterhin davon aus, dass solche Institutionen und Medien Hegel spricht auch von »Mitten« einer objektiven Gestalt, sei es in Form von Gegenständen oder gegenständlichen Praktiken, bedürfen, dann ist der Ort umrissen, an dem die Dinge eine soziale Vermittlung übernehmen können. Die hier vorgeschlagene sozialphilosophische Positionierung der Dinge im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Integration und individueller Freiheit unterscheidet sich von zwei aktuellen Theorieströmungen, die sich ebenfalls einer Neubewertung der dinglichen Welt verschrieben haben. Mit der Actor-Network-Theory, die hauptsächlich in der Wissenschaftsgeschichte beheimatet und untrennbar mit dem Namen Bruno Latour verbunden ist, teilt die vorliegende Arbeit die Grundintention, dass die hierarchische und strikte Trennung zwischen der menschlichen Welt und jener der Dinge nicht aufrechtzuerhalten ist und tatsächlich beständig unterlaufen wird (vgl. Latour 2008 [1991]). Doch während sich Latour auf die Suche nach »Hybriden« begibt, die zwischen oder unterhalb der beiden Welten in Form von Netzwerken miteinander agieren, geht es im Folgenden eher darum, die sozialintegrative Kraft der Dinge aufzuzeigen. Dazu muss man bis zu einem gewissen Grad an der problematisierten Unterscheidung festhalten, um weiterhin nach den Grundlagen der sozialen Freiheit sowie dem Verbleib der Verdinglichungskritik fragen zu können. Darüber hinaus formiert sich derzeit unter dem Label »Neuer Realismus« beziehungsweise »Spekulativer Realismus« eine Strömung in der Gegenwartsphilosophie, die bislang vor allem der gemeinsame Gegner eint: nämlich die sowohl mit der kantischen Philosophie als auch der postmodernen Sprachphilosophie assoziierte Vorstellung, die Wirk…