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Diese Sozialkunde der Bundesrepublik stellt dar, wie Gesellschaft, Wirtschaft und Politik sich in Deutschland historisch gewandelt haben, wo wir heute stehen und wohin die Entwicklung geht. Ausgewiesene Experten schreiben unter anderem zu den Themen sozialer Wandel, Migration, Familie, Bildung, innere Sicherheit, Wirtschaftsordnung, Arbeitsmarkt und Arbeitswelt, Zivilgesellschaft, Regierungssystem und Medien. Darüber hinaus zeigen mögliche Zukunftsszenarien: Trotz sozialer Ungleichheit, Generationenkonflikt und Demokratieverlust besteht die Chance auf eine Gesellschaft, die von Wachstum und Nachhaltigkeit geprägt ist. Das Standardwerk bietet einen Überblick auf dem neusten Stand der Soziologie und Politikwissenschaft. Mit Beiträgen von Hans-Jörg Albrecht, Maurizio Bach, Rolf Becker, Johannes Berger, Hartmut Häußermann, Martin Heidenreich, Stefan Hradil, Wolfgang Ludwig-Mayerhofer, Hans-Peter Müller, Oskar Niedermayer, Uwe Schimank, Josef Schmid, Manfred G. Schmidt, Norbert F. Schneider, Wolfgang Seifert, Roland Sturm, Jürgen Wilke, Annette Zimmer, Sascha Zirra und Michael Zürn.
Autorentext
Stefan Dradil war von 1991 bis 2011 Professor für Soziologie an der Universität Mainz.
Leseprobe
Kapitel 8 Werte, Milieus und Lebensstile Zum Kulturwandel unserer Gesellschaft Hans-Peter Müller 1 Einleitung: Wertewandel, Individualisierung und Erlebnisgesellschaft Jede Gesellschaft weist eine Doppelnatur auf: Zum einen existiert sie als objektive Wirklichkeit in Gestalt ihrer Sozialstruktur. Sozialstruktur bezeichnet das innere Gefüge und den Aufbau der Gesellschaft, vor allem die soziodemografischen Merkmale wie Bevölkerung, Wirtschaft (Arbeitsmarkt und Erwerbstätigkeit), Bildung, Familie und Lebensformen, aber auch die sozialökonomische Gliederung nach Klassen und Schichten. Zum anderen existiert sie als subjektiv wahrgenommene, mit Sinn und Bedeutung versehene Realität in Gestalt ihrer Kultur. Kultur umfasst Wissen und Artefakte, Ideen und Ideale, Werte und Normen, aber auch Einstellungen und Meinungen. Zur Gesellschaft gehört stets der Diskurs über die Gesellschaft. Die Gesellschaft besteht also aus Sozialstruktur und Kultur, aus Faktizität und Normativität, aus Wirklichkeit und Idealität, aus Realität und Reflexion. Das sind gleichsam zwei Seiten einer Medaille. Die Soziologie als Wissenschaft untersucht die Gesellschaft in ihrer Doppelnatur als Sozialstruktur und Kultur und ist damit selbst Teil der Kultur. Ihre Begriffe und Theorien sind keineswegs unschuldige und neutrale Instrumente, sondern sie werden von der sozialen Wirklichkeit selbst beeinflusst und prägen diese Wirklichkeit mit. Die Gesellschaftsanalyse bliebe blass ohne solche »Gesellschaftsbilder«, die den empirischen Fakten erst Sinn und Bedeutung verleihen und das Verstehen erleichtern. Begriffe wie Industriegesellschaft, Dienstleistungsgesellschaft, Informations- und Wissensgesellschaft geben uns eine erste Vorstellung, in welcher Gesellschaft wir leben (vgl. Kapitel 2: Sozialer Wandel). Auch die in den 1970er- und 1980er-Jahren aufkommenden Begriffe Wertewandel, Individualisierung und Erlebnisgesellschaft markieren solche Gesellschaftsbilder, die das Verständnis der sozialen und kulturellen Wirklichkeit in der alten Bundesrepublik geprägt haben. Wie muss man diese neuen Selbstbeschreibungen verstehen? Der Gesellschaftsumbruch im Verlauf der Moderne Die moderne Gesellschaft ging aus drei Revolutionen hervor: der ökonomischen Revolution und der Entstehung des Kapitalismus; der politischen Revolution und der Heraufkunft der Demokratie; der kulturellen Revolution und der Durchsetzung des Individualismus. Alle diese Merkmale Kapitalismus, Demokratie und Individualismus charakterisieren bis heute moderne (westliche) Gesellschaften. Aber die ökonomischen, politischen und kulturellen Voraussetzungen für die massenhafte Verwirklichung der damit verbundenen Werte der Freiheit, Gleichheit und Solidarität wurden in Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen. Mit der sozialen Marktwirtschaft kam der Wohlstand, mit der Demokratie wurden aus deutschen Untertanen gleichberechtigte Bürger, und mit dem Individualismus wurde eine persönlich gewählte Lebensführung möglich. Allerdings erfolgte dieser Durchbruch zunächst im klassischen Gewand einer industriegesellschaftlich-autoritären Moderne, für die die »Adenauer-Zeit« in Westdeutschland typisch war. Erst im Gefolge von »1968« konnte dieses alte Gewand abgestreift werden. Dafür stehen die drei Stichworte Wertewandel, Individualisierung und Erlebnisgesellschaft. Um diesen Umbruch genauer zu charakterisieren, seien zunächst die wichtigsten Begriffe definiert (2.). In Abschnitt 3 wird ausführlicher auf den Wertewandel eingegangen, in Abschnitt 4 auf die Individualisierung und die Pluralisierung sozialer Milieus und Lebensstile. In den darauffolgenden Abschnitten geht es dann um den Wandel von Biografien und Lebensläufen (5.) und um die Frage der Säkularisierung oder Rückkehr der Religion (6.). Abschließend wird unter den Stichworten Knappheit, Unsicherheit und Flexibilität ein Ausblick auf denkbare weitere Entwicklungen gegeben.
Inhalt
Inhalt Kapitel 1 Sozialkunde Deutschlands 9 Einleitung Stefan Hradil Kapitel 2 Sozialer Wandel 17 Wohin geht die Entwicklung? Uwe Schimank Kapitel 3 Bevölkerung 41 Die Angst vor der demografischen Zukunft Stefan Hradil Kapitel 4 Migration 67 Vom Gastarbeiter zum Menschen mit Migrationshintergrund Wolfgang Seifert Kapitel 5 Familie 94 Zwischen traditioneller Institution und individuell gestalteter Lebensform Norbert F. Schneider Kapitel 6 Bildung 121 Die wichtigste Investition in die Zukunft Rolf Becker Kapitel 7 Soziale Ungleichheit 152 Eine Gesellschaft rückt auseinander Stefan Hradil Kapitel 8 Werte, Milieus und Lebensstile 185 Zum Kulturwandel unserer Gesellschaft Hans-Peter Müller Kapitel 9 Innere Sicherheit und soziale Kontrolle 209 Wie viel Freiheit ist möglich? Hans-Jörg Albrecht Kapitel 10 Siedlungsstruktur 229 Die neue Attraktivität der Städte Hartmut Häußermann Kapitel 11 Wirtschaftsordnung und wirtschaftliche Entwicklung 247 Vergangenheit und Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft Johannes Berger Kapitel 12 Arbeitsmarkt 284 Für alle wichtig, für viele unsicherer Wolfgang Ludwig-Mayerhofer Kapitel 13 Arbeitswelt 308 Die Entgrenzung einer zentralen Sphäre Martin Heidenreich/Sascha Zirra Kapitel 14 Demokratie 330 Deutschlands schwieriger »Weg nach Westen« Manfred G. Schmidt Kapitel 15 Zivilgesellschaft 347 Ein Leitbild Annette Zimmer Kapitel 16 Regierungssystem 360 Herausforderungen für Regierung und Verfassung Roland Sturm Kapitel 17 Parteien und Wahlen 378 Die Entwicklung des politischen Wettbewerbs Oskar Niedermayer Kapitel 18 Medien 398 Die »vierte Gewalt«? Jürgen Wilke Kapitel 19 Sozialstaat 422 Eine Institution im Umbruch Josef Schmid Kapitel 20 Europäische Integration 449 Zwischen Markt und Solidarität Maurizio Bach Kapitel 21 Supranationalisierung 472 Die Zukunft der Staatlichkeit Michael Zürn Kapitel 22 Zukunftsszenarien für Deutschland 495 Stefan Hradil Glossar 512 Literatur 543 Autoren 558 Sachregister 565