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Seit der Finanzkrise von 2008 ist einiges unternommen worden, um eine ähnliche Katastrophe in Zukunft zu verhindern - auch von den Finanzakteuren selbst. Heute gibt es eine Reihe von Selbstregulierungsmaßnahmen in Form von Wertekatalogen und Verhaltensstandards. Doch welche Spielräume lassen strukturelle Zwänge zu? Mittels Interviews rekonstruiert die Autorin das berufliche Selbstverständnis und die Herausforderungen der Angestellten einer in Verruf geratenen Branche, die zu weitreichenden Erkenntnissen über die Potentiale und Grenzen finanzwirtschaftlicher Selbstregulierung führen.
»Bei der von Claudia Czingon vorgelegten Studie zur Berufsmoral der Banker handelt es sich um eine theoretisch ambitionierte wie empirisch überzeugende Dissertationsschrift. Mit der übersichtlich gegliederten Arbeit gelingt es ihr, eine Leerstelle der Forschung zu identifizieren und produktiv zu schließen.« Dietmar Wetzel, Soziopolis, 29.10.2019 »Die Arbeit gibt einen spannenden und wichtigen Impuls in die gegenwärtige Wirtschafts- und Finanzmarktsoziologie.« Andreas Langenohl, Soziologische Revue, 3.2021
Autorentext
Claudia Czingon ist Redakteurin des Leviathan Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft.
Leseprobe
Vorwort Die Studie von Claudia Czingon lässt sich als eine Aktualisierung und Weiterentwicklung der klassischen Überlegungen Émile Durkheims zu einer soziologischen Wissenschaft der Moral, insbesondere zur Moral von Berufsgruppen verstehen. Sie fragt im Kontext der branchenspezifischen Bewältigungsversuche der Finanzkrise von 2008 nach der Moral von Professionals im Banken- und Finanzwesen sowie nach den strukturellen Bedingungen ihrer Ermöglichung oder Behinderung. Hatte die Kritische Theorie im Durkheimschen Denken vornehmlich eine Tendenz zur positivistischen Apologie des Bestehenden erkannt, gewinnt ihm Czingons Studie die Fähigkeit zur »immanenten Kritik« ab, die Adorno bei Durkheim gerade stillgestellt sah. Wie Durkheim geht sie davon aus, dass sich eine Berufsmoral stets nur in Relation zu den ökonomischen Strukturbedingungen entwickeln und erhalten kann. Gleichwohl trifft man bei Czingons empirischen Erkundungen in der Finanzwelt auf Akteure, die weniger verblendet als vielmehr in der Lage zu sein scheinen, die strukturellen Handlungsspielräume und systemischen Imperative, denen sie ausgesetzt sind, einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Gerade mit ihrem Durkheimschen Blick findet die Autorin in der gegenwärtigen Finanzwelt moralische Potentiale, die über sie hinausweisen, zugleich aber stößt sie auf eine Übermacht struktureller Handlungszwänge im Finanzsystem. Ohne selbst ein moralisierendes Vokabular zu benutzen, versteht sie ihre Analyse im Sinne einer »Soziologie der Kritik«, die bei den Finanzakteuren sowohl eine Strukturkritik des Bank- und Finanzwesens als auch eine Kulturkritik kapitalistischer Kundenorientierung diagnostiziert. Für ihre empirische Untersuchung, die auf einer Dissertation im Rahmen eines Forschungsprojekts am Exzellenzcluster »Normative Orders« der Goethe-Universität Frankfurt am Main beruht, hat Claudia Czingon 24 qualitative Leitfadeninterviews mit verschiedenen Akteuren und einigen wenigen Akteurinnen aus dem heterogenen Feld des Finanzsektors durchgeführt. Mit einer solchen Studie betritt die Verfasserin weitgehend Neuland, zumal sich bislang weder die Professions- noch die Wirtschafts- und Finanzsoziologie systematisch mit der Berufsmoral der untersuchten Branche befasst haben. Mit dem Ziel, die Potentiale und Grenzen der finanzwirtschaftlichen Selbstregulierung soziologisch zu bestimmen, analysiert die Autorin moralische Handlungsorientierungen und Sichtweisen einer Berufsgruppe, die sich seit dem Ausbruch der Finanzkrise vielfach der öffentlichen Kritik ausgesetzt sieht. Ausgehend von dieser Wahrnehmung stellt die Arbeit die Frage, inwiefern sich die Ereignisse der Finanzkrise in Veränderungen des beruflichen Selbstverständnisses von Finanzakteuren niedergeschlagen haben. In einer prägnanten Darstellung der Ursachen und Folgen der Finanzkrise von 2008 spezifiziert das erste Kapitel zunächst den historischen und ökonomischen Kontext der Untersuchung. Eine besondere Betonung erfahren dabei Maßnahmen der normativen Selbstregulierung wie etwa die Einrichtung von Integritätsausschüssen und Risikoabteilungen, die den »Kulturwandel« der Banken nach außen hin kommunizieren sollen. Ergänzend zu den politischen Regulierungsinstrumenten seien diese nicht nur auf die Stabilisierung des Finanzsystems ausgerichtet, sondern auch mit dem Ziel verbunden, verlorengegangenes Vertrauen der Kunden zurückzugewinnen. Der Autorin gelingt in diesem Kapitel eine sehr anschauliche Darstellung der Krisendynamiken und ihrer Folgen. Sie bildet den Hintergrund für ihre Frage, ob und inwiefern die Akteure und Akteurinnen im Banken- und Finanzwesen zu einer kritischen Selbstreflexion willens und in der Lage sind. Das zweite Kapitel verortet den Untersuchungsgegenstand im Kontext eines wirtschaftssoziologischen Verständnisses von Markt und Moral. Dabei grenzt die Verfasserin ihren Ansatz zunächst von der Perspektive der Wirtschaftswissenschaften ab, die moralische Entscheidungen auf individuelle Präferenzen und Nutzenkalküle sozial isolierter Akteure zurückführen. Entlang der Auseinandersetzung mit den Einbettungskonzeptionen Karl Polanyis und Mark Granovetters entwickelt die Autorin ein substantielles Wirtschaftsverständnis, das die moralisch-kulturelle Dimension sozialer Einbettung hervorhebt. Generell einer handlungstheoretischen Perspektive folgend, plädiert sie in Anwendung einer Unterscheidung von Jens Beckert dafür, moralische Sinnmuster in Abhängigkeit zum jeweiligen Untersuchungsfeld als marktbegleitende Mischformen zu analysieren und nicht ausschließend als marktförderlich oder marktbegrenzend zu verstehen. Dabei werden der Leserschaft nicht nur die Schwächen der in den Wirtschaftswissenschaften vorherrschenden individualistisch-rationalen Moralkonzeption deutlich vor Augen geführt. Claudia Czingon vermag auch die moralisch-kulturelle Dimension sozialer Einbettung, die sie ihrer Arbeit zugrunde legt, in überaus überzeugender Weise herzuleiten. Eine theoretische Schärfung des Begriffs der Berufsmoral nimmt das dritte Kapitel vor, indem es zwei zentrale Bestimmungskriterien präsentiert. Mit dem Ziel, sowohl einem individualistischen als auch einem normativistischen Moralverständnis zu entgehen, entwickelt die Autorin in Anlehnung an Durkheim zunächst ein sozialkonstruktivistisches Moralkonzept. Dieses definiert Moral nicht als universellen ethischen Standard, sondern erklärt sie als soziale Tatsache zum Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse, wodurch unterschiedliche Handlungsorientierungen der Akteure und ihre wechselseitigen Verhaltenserwartungen kenntlich gemacht werden können. Ein zweites Bestimmungsmerkmal von Berufsmoral besteht in den Legitimitätsvorstellungen der Finanzakteure, die sich durch die Analyse von Rechtfertigungsmustern der beruflichen Praxis erfassen ließen. Dabei folgt die Autorin der grundlegenden Annahme einer Soziologie der Kritik, wonach Akteure über reflexive Fähigkeiten verfügen, die eigene berufliche Praxis gegenüber Einwänden rechtfertigen zu können. Das vierte Kapitel gibt Auskunft über das methodische Vorgehen der Untersuchung, die unterschiedliche Bereiche des Finanzwesens umfasste, um auch die zum Teil konkurrierenden Handlungsorientierungen der Akteurinnen und Akteure in den Blick nehmen zu können. Die Autorin sah sich dabei mit einem äußerst schwierigen Feldzugang konfrontiert, was sich als Reaktion auf die massive öffentliche Kritik an der Finanzbranche erklären lässt. Einen interessanten Hinweis auf die Sensibilität des Themas bietet die Situationsschilderung eines Interviews, das beinahe zum Abbruch des Gesprächs führte, da sich der Interviewte seiner Anonymität nicht mehr sicher fühlte und zunächst darauf bestand, die Audioaufzeichnung zu löschen. Umso beeindr…