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Dieses Büchlein versammelt in Erinnerung an die Politikerin, Pazifistin und Freundin Antje Vollmer unveröffentlichte Texte, um das Gespräch mit ihr, um den Dialog, den sie als höchste Kunstform feierte, nicht abbrechen zu lassen in diesen kriegerischen Zeiten.
Leseprobe
Dieses Büchlein versammelt in Erinnerung an Antje Vollmer unveröffentlichte Texte. Vor einem Jahr am 15. März ist Antje Vollmer verstorben. Das Gespräch mit ihr geht weiter. Seit dem Jahr 1990 verband uns eine intensive Freundschaft. Der Zeitpunkt, als das Land, in dem ich geboren bin, aufhörte zu existieren und ein Interpretationswettstreit über die Wahrheit in der Geschichte begann, der seinesgleichen suchte, an diesem Zeitpunkt sind wir uns das erste Mal bewusst begegnet. Sie kam aus dem reichen Land, das seine Widersprüche mit Konsum und Aufmerksamkeitsverschmutzung klein und handhabbar hielt. Ich kam aus dem anderen Teil Deutschlands, wo uns wenig abzuhalten vermochte, an der Realität zu zweifeln. Wir hatten versucht, die unerträglichen Verhältnisse der späten DDR zu ändern, und waren letztlich gescheitert. Die alte Bundesrepublik begann uns zu verschlingen, gierig, um den eigenen Schwächen und Krisen entkommen zu können. Die beiden Staaten, aus denen wir kamen, begannen sich zu verändern. Die einen merkten es schmerzhaft, die anderen merkten es kaum. In diesem Prozess, der mehr oder weniger treuhänderisch vonstattenging und unsere Erfahrungen aus dem Osten für nichtig erklärte, waren Gespräche, die nicht auf das Rechthaben aus waren, Seltenheit. In der offiziellen Politik bemühte man sich, reale Geschichte ins Nichts aufzulösen, so wie man Häuser, Straßennamen und Denkmäler aus dem öffentlichen Raum verbannte. Es war schwer, eine andere Geschichte zu erzählen als die in Fernsehsendern, Zeitungen und auf Parteitagen. Alles war ins Wanken geraten. Antje Vollmer interessierte sich immer für die Erfahrungen der Verlierer. So kamen wir wahrscheinlich zusammen. Denn die Berichte der Gescheiterten verbergen eine Wahrheit, die vital werden kann in Krisen und Umbrüchen, die keinen Platz findet in den Narrativen der Sieger, weil sie nur ihren eigenen Triumph als Realität akzeptieren. Das Interesse von Antje Vollmer an den Erfahrungen, die wir Ostdeutschen einzubringen imstande waren, bildete eine rühmliche Ausnahme im allgemeinen Diskursklima, wo es nur Zutritt gab für unseresgleichen, wenn wir zuvor den Schwur geleistet hatten, dass unsere Vergangenheit in einem Unrechtsregime lag. Antje Vollmer suchte das Gespräch und konnte zuhören. An diesem Zeitpunkt begann unsere Freundschaft. Wir diskutierten politische Ereignisse, trafen uns mit Freunden, lernten einander zuzuhören. Wir haben gemeinsam an zwei Büchern gearbeitet über zwei Filmregisseure aus Ost und West: Rainer Werner Fassbinder und Konrad Wolf. Es interessierte uns, wie Realität in Geschichtsschreibung oder der Kunst verborgen liegt. Was vermögen uns die Filme Fassbinders über seine Gesellschaft zu berichten? Was vermag das Oeuvre Konrad Wolfs über die kommunistische Utopie zu erzählen, über ihr Scheitern, ihre Fehler. Wir versuchten, an fremden Themen unsere eigenen Erfahrungen zu schärfen. Die Bücher liegen nun lange in den Regalen. Sie sind selber Geschichte. Dass nicht einmal die Akademie der Künste eine Lesung veranstaltet hatte, bei der wir unser Buch über den ehemaligen Präsidenten der Akademie der Künste der DDR, Konrad Wolf, vorstellen konnten, spricht für sich. Auch heute ist das Interesse an der Geschichte marginal und im besten Falle nur dann zu gebrauchen, wenn es sich für politische Zwecke instrumentalisieren lässt. Aber unsere Bücher gibt es und es gibt auch Wunder, wie es im Schlager heißt, und zwar immer wieder. Jean-Paul Barbe, emeritierter Professor der Germanistik an der Universität von Nantes und Kulturwissenschaftler, Übersetzer und Autor, entdeckte unser Buch Hinter den Bildern die Welt - Die untergegangene Bundesrepublik in den Filmen von Rainer Werner Fassbinder und schrieb Deutschland im Spätherbst Eine Nachtragsrezension. Diese Rezension, nach dem Tod von Antje Vollmer geschrieben, nimmt unser Buch als etwas Verborgenes wahr und bemerkt vor allem: das Dialogische, das Gespräch, den Briefwechsel als eigentlichen Kern unserer Freundschaft. Diese Rezension fand keine Zeitung, keinen Redakteur. Und so entstand die Idee, diesen Text in einer kleinen Publikation zu veröffentlichen, aus Anlass des ersten Todestages von Antje Vollmer. Ist so ein Gedanke erst einmal geboren, zieht er andere Gedanken nach. Der Filmregisseur Lew Hohmann stellte uns den Text eines längeren Interviews zur Verfügung, das er im August 2022 für den Dokumentarfilm Wenzel Glaubt nie, was ich singe mit Antje geführt hatte. Die Fragen zielen vor allem auf unser Verhältnis, auf Begebenheiten. Es ist das letzte größere Interview, das mit ihr geführt wurde. Wir geben hier die ungekürzte Fassung des Gespräches wieder. Im Film fanden nur ein paar Minuten Verwendung. In der langen Fassung können wir erleben, wie Antje Vollmer gedankliche Zusammenhänge baut, wie sie erzählt, wie sie nachdenkt. Ein kostbares Dokument. Schließlich habe auch ich noch einen kleinen Text über unsere Freundschaft geschrieben, in dem ich Erinnerungen und Fragen zu formulieren versuche. Abwesenheit, das Fehlende unser Leben fordert uns streng heraus, mit diesen Phänomenen umgehen zu lernen. All diese Texte verweisen auf eine Kunst, die Antje Vollmer sehr wichtig war: das Gespräch, den Austausch, den Dialog. Daran zu erinnern in Zeiten mörderischer Monologe von Kriegen, dass der Dialog unsere elementare Kommunikationsform bildet, um Erfahrungen und Zweifel handhaben zu können, als die einzige politische und menschliche Kommunikationsform ohne nostalgischen oder folkloristischen Grund. Es geht um unsere Kultur, das Zusammenleben, den Austausch. Diese Schrift soll daran erinnern und gemahnen, dass Antje Vollmer mit großer Leidenschaft nach Auswegen aus ausweglosen Situationen suchte und sie zu fördern und zu denken verstand. Es ist aber zugleich eine Schrift über die Vitalität einer Freundschaft, die allen politischen und persönlichen Krisen standhielt und die bis heute weit über den Tod hinaus noch wirkmächtig ist. Die Toten sind erst dann tot, wenn wir sie vergessen haben, wenn wir meinen, sie nicht mehr zu brauchen. Wenzel, März 2024