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Nordamerikastudien
Nicht nur der Wirtschafts- und Finanzsektor ist in den Vereinigten Staaten von Krisen geschüttelt. Auch die amerikanische Demokratie, das politische und gesellschaftliche System sowie das Gesundheits- und Bildungswesen zeigen schwere Krisensymptome. Führende Expertinnen und Experten darunter der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman und die Philosophin Nancy Fraser analysieren in diesem Band die aktuelle innen- und außenpolitische Problemlage der USA und stellen sie in einen historischen Kontext. Während die internationale Dominanz Amerikas schwindet und die Idee seines Exzeptionalismus infrage steht, bleibt das Land gleichwohl für Deutschland und die westlichen Verbündeten politisch und kulturell ein zentraler Bezugspunkt.
Autorentext
Andreas Etges ist Professor für Geschichte am John-F.-Kennedy- Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin. Winfried Fluck ist dort Professor für Kulturtheorie und Kulturgeschichte.
Leseprobe
Es ist keine Überraschung, dass sich eine interdisziplinäre Vortragsreihe in Zeiten einer Finanz- und Wirtschaftskrise historischen Ausmaßes - einer Krise, von der weit mehr Volkswirtschaften als nur die amerikanische betroffen sind - der Untersuchung amerikanischer Krisenerscheinungen widmet. Wir erleben gerade eine ganze Reihe globaler Finanzkrisen, und ich möchte an dieser Stelle um Nachsicht für den starken Amerika-Fokus meines eigenen Beitrages zu dieser Thematik bitten. Ich habe diese Perspektive zum einen deshalb gewählt, weil ich in dieser nationalen Wirtschaft "beheimatet" bin, zum anderen aber auch, weil sich herausgestellt hat, dass es etwas einfacher ist, die Daten für diesen speziellen Fall zusammenzutragen. In vielerlei Hinsicht lassen sich meine Aussagen zu den Vereinigten Staaten auch auf Europa als Ganzes anwenden. Zugegeben, in Deutschland ist die Krise anders verlaufen als in den Vereinigten Staaten, wenn auch nicht in einem Maße wie meist behauptet wird. Sobald wir jedoch von der Eurozone oder der Europäischen Union als für diesen Fall relevanter Wirtschaftseinheit ausgehen, ergibt sich ein Bild, das markante Ähnlichkeiten mit meinen Aussagen zu den Vereinigten Staaten aufweist. Lassen Sie uns mit der traurigen Tatsache beginnen, dass die Vereinigten Staaten 2008/09 eine wahrhaft einschneidende Finanzkrise erlebten. Es ist an dieser Stelle nicht nötig, chronologisch genau ins Detail zu gehen, und ich werde auch nicht viel Zeit auf die Darstellung der Ursachen dieser Krise verwenden. Es herrscht breiter Konsens in Bezug auf das, was passiert ist: Der Finanzsektor geriet außer Kontrolle und es bildete sich in der Folge eine monströse Immobilienblase. Als diese platzte, verursachte das gravierende Schäden im Finanzsystem und bei den privaten Vermögensbilanzen. Finanzinstitutionen und Haushalte hatten nicht nur Schulden angehäuft, sondern darüber hinaus bedeutende Vermögenswerte verloren, mit denen die Schulden hätten ausgeglichen werden können. Es besteht eine gewisse Versuchung, dieser Seite der Geschichte ein übergroßes Maß an Bedeutung zukommen zu lassen. Meiner Beobachtung zufolge verspüren viele Menschen besondere Lust dabei, vor allen Dingen die Exzesse des Booms zu betrachten. Diese Menschen tendieren dazu, auf moralischer Ebene zu argumentieren: Schaut euch die Bösartigkeit an, zu der Menschen fähig sind! Schaut, wie sich Neid, Gier und Leichtsinn ausbreiten und die Menschen sich hinreißen lassen! Während all dies sicherlich der Wahrheit entspricht und es in der Regel Spaß macht, diese dunkle Seite der menschlichen Natur in der Wirtschaftswelt offenzulegen, soll sie hier nicht unser Problem sein. Sie ist einer der Gründe für die Krise, aber die wichtigere Frage ist, wie wir aus dem Schlamassel wieder herauskommen. Weder der Boom noch der Crash waren Phänomene globalen Ausmaßes, sondern auf den nordatlantischen Bereich begrenzt. Wir haben erlebt, dass sich große Immobilienblasen in vielen Teilen der Vereinigten Staaten sowie in einigen Teilen Europas bildeten. Die nordatlantische Krise folgte auf das Platzen der Immobilienblase, und was wir dann beobachten konnten, war typisch für eine sehr schwere Finanzkrise. Laut Kenneth Rogoff, der zu der Geschichte und den Folgen der Finanzkrise forscht, erleben wir gerade eine "gewöhnliche schwere Finanzkrise ". Das mag sich seltsam anhören, aber wenn wir uns schwere Finanzkrisen tatsächlich einmal ansehen, liegen unsere jüngsten Erfahrungen in etwa im Durchschnitt der schweren Krisen der Vergangenheit. Es handelt sich also nicht um eine Wiederholung der Großen Depression der dreißiger Jahre. Das ist in keiner Weise beruhigend, aber wir befinden uns nicht in einer Krise, die mit dieser schlimmsten aller bisherigen vergleichbar wäre. Auf der anderen Seite ist es nicht übertrieben zu sagen, dass die derzeitigen Entwicklungen einem Zustand ähneln, der fast an die Große Depression heranreicht. Abbildung 1 vergleicht die Arbeitslosenquoten nach drei schweren Finanzkrisen, die allesamt weniger schwerwiegend als die Große Depression der dreißiger Jahre waren. Diese Krisen lagen zeitlich und räumlich weit auseinander. "t" steht für das Jahr der jeweiligen Bankenkrise. Die lange Linie in der Mitte dokumentiert die Arbeitslosenquote der Vereinigten Staaten im Vorfeld und in der Zeit nach der Börsenpanik von 1893, der schlimmsten finanziellen Krise vor der Großen Depression.1 Die lange, fast diagonale Linie steht für Schweden, das seine schwere Finanzkrise in den frühen neunziger Jahren durchlebte. Die kürzeste Linie steht für die aktuelle Krise der USA. Es gilt zwei wichtige Lehren aus dieser Darstellung zu ziehen: Erstens ist das Ausmaß der Finanzkrise von 2008/09 in den Vereinigten Staaten mehr oder weniger normal. Um ganz korrekt zu sein, und um meine Aussagen auf eine solide empirische Basis zu stellen, müsste ich eine größere Datenbasis verwenden. Aber Abbildung 1 illustriert sehr gut, dass das, was wir in den Vereinigten Staaten gegenwärtig beobachten, kaum unerwartet oder atypisch ist. Bei einer Betrachtung der Geschichte aller früheren Finanzkrisen hätten wir einen sehr deutlichen Anstieg der Arbeitslosenquote nach 2008/09 erwartet, was ja auch tatsächlich geschehen ist. Die zweite Lektion, die aus Abbildung 1 gezogen werden kann, ist, dass auch lange Zeit nach einer schweren Krise noch mit hoher Arbeitslosigkeit zu rechnen sein wird. Schweden wird oft als Paradebeispiel für gutes finanzielles Krisenmanagement und Schadensbegrenzung angeführt, obwohl auch die schwedische Arbeitslosenquote in die Höhe schoss und lange auf einem hohen Stand blieb. Das relativ wohlhabende Schweden, das wir heute kennen, gibt es erst seit Ende der neunziger Jahre. Wenn wir fast ein Jahrhundert in der amerikanischen Geschichte zurück gehen, sehen wir, dass die Wirtschaft der USA nach der Panik von 1893 über viele Jahre stark rückläufig war. Wer also diesmal eine schnelle Erholung der USA (eine sogenannte "V-förmige" Erholung) erwartet hat und angenommen hat, dass nicht viel mehr als die gröbste Schadensbegrenzung nötig sein würde, hat die Geschichte ignoriert. Da wir nicht zu einer Wiederholung der Geschichte verdammt sind, stellen sich natürlich Fragen: Warum ist es heute nicht besser? Weshalb haben wir eine immer höhere Arbeitslosigkeit? Warum gibt es in den Vereinigten Staaten auch mehr als zwei Jahre nach der Pleite von Lehman Brothers immer noch extrem langsames Wirtschaftswachstum, womöglich weiter steigende Arbeitslosigkeit und praktisch keine entsprechenden Initiativen aus der Politik, von einigen Maßnahmen der Federal Reserve vielleicht einmal abgesehen? Wie kann es sein, dass wir heute nicht besser dastehen als nach der Panik von 1893? Haben wir nichts aus dieser Erfahrung oder seitdem gelernt? Hat die Wirtschaftswissenschaft keine Fortschritte gemacht? Haben wir nicht bereits bessere, wirksame Strategien für den Umgang mit Nachfragerückgängen entwickelt? Wie kommt es, das…