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'Vielleicht kannst du nicht glauben, was ich hier erzähle. Vielleicht kannst du es nicht verstehen, weil du nicht an Bord warst. Aber ich war drin und habe die Menschen gesehen. Und ich sehe sie immer noch. Das, was damals passiert ist, geschieht wieder und wieder ...' So beginnt der Optiker von Lampedusa seine Geschichte und zugleich die von 47 Menschen, die er im Oktober 2013 vor dem Ertrinken bewahrte. Er ist ein einfacher Mann, ein Jedermann, der auf Lampedusa lebt, sich um seine Familie sorgt und erst im Strudel der Ereignisse zum Handelnden und Retter wird. Doch dieses Buch ist mehr als die Geschichte einer Rettung, es beschreibt den grundlegenden Wandel vom passiven Zeitgenossen zum engagierten Zeitzeugen. Eindrücklicher, ergreifender und erschütternder ist noch nie über die große Tragödie unserer Zeit, das fortdauernde Sterben im Mittelmeer, geschrieben worden.
Emma-Jane Kirby, geboren 1970 in Chelmsford, Essex, arbeitete für verschiedene Radiosender der BBC, bevor sie 2001 ihre Karriere als Auslandskorrespondentin begann. Sie war UN-Korrespondentin in Genf, danach Europa-Korrespondentin in Brüssel und ist seit drei Jahren Frankreich-Korrespondentin für die BBC in Paris. Das Buch 'Der Optiker von Lampedusa' entstand aus der gleichnamigen Radioreportage, die 2015 in Frankreich mit dem renommierten 'Prix Bayeux-Calvados des Correspondants de Guerre' ausgezeichnet wurde.
Préface
»Ein Gedanke verlässt mich nie: Warum konnte ich nicht alle retten?«
Auteur
Emma-Jane Kirby, geboren 1970 in Chelmsford, Essex, arbeitete für verschiedene Radiosender der BBC, bevor sie 2001 ihre Karriere als Auslandskorrespondentin begann. Sie war UN-Korrespondentin in Genf, danach Europa-Korrespondentin in Brüssel und ist seit drei Jahren Frankreich-Korrespondentin für die BBC in Paris. Das Buch "Der Optiker von Lampedusa" entstand aus der gleichnamigen Radioreportage, die 2015 in Frankreich mit dem renommierten "Prix Bayeux-Calvados des Correspondants de Guerre" ausgezeichnet wurde.
Échantillon de lecture
Der Optiker von Lampedusa joggt. Bei jedem Auftritt steigen von der rissigen Straße kleine Staubwölkchen hoch, und die winzigen Partikel wirbeln in einem feinen rostfarbenen Schleier um seine Knie. Heute geht nur ein leichter Wind, selbst auf der Küstenstraße; in trockenen, unregelmäßigen Stößen umweht er das Gesicht des Optikers, und dieser kann im salzigen Hauch des Windes den scharfen Geruch des Meers riechen. In der sengenden Herbstsonne ist es fast zu heiß, um zu joggen, aber er drängt voran, und der Staub, der sich mit seinem Schweiß vermischt, klebt ihm in Klumpen an den Beinen. Von irgendwoher, vielleicht vom Hafen am Ende der Stadt, hört er einen Hund jaulen. Zu jeder Tages- oder Nachtzeit, denkt er, kann man auf dieser Insel einen streunenden Hund kläffen hören.
Eigentlich ist die Insel eher Afrika als Italien. Hier beim Joggen, weit weg von den Gelato- und Cappuccino-Bars und den Souvenirläden der kleinen Stadt, kann man sich gut vorstellen, in Afrika zu sein, vor allem, wenn man an einem kleinen trockengemauerten Dammuso mit weiß getünchtem Dach vorbeikommt. Er kneift die Augen zusammen. Von hier aus kann man beinahe die afrikanische Küste erkennen. Tunesien, Lampedusas nächster Nachbar, ist zweimal so nah wie Sizilien.
Fünfundzwanzig Jahre lebt er nun schon in dieser trockenen, dürren Landschaft. Seit fünfundzwanzig Jahren läuft er, von Dornen zerkratzt und von Schmutz verkrustet, durch dieses zerklüftete, ausgedörrte Buschland. Wie ruhig es hier ist im Vergleich zu dem aufgeregten Chaos seiner Geburtsstadt Neapel, doch bereut hat der Optiker es noch nie, seine weitläufige Stadt gegen die Einsamkeit dieser kleinen Insel eingetauscht zu haben. Sie mag nur zehn Quadratkilometer groß sein, etwa halb so groß wie Neapel, aber auf Lampedusa ist er auf allen Seiten vom Meer umgeben. Der Optiker braucht das Meer.
Als er jetzt die Pfade der Südküste entlangjoggt, blickt er aufs Wasser. Zersplittertes Kobaltblau und Türkisgrün, glatt und glänzend wie billiger Schmuck, und er weiß, würde er jetzt hineinspringen, wäre es noch immer einladend warm, obwohl es bereits der erste Tag im Oktober ist. Wenn er sich mit seiner Frau Teresa draußen auf dem Boot aufhält, beobachtet er Delfine, mitunter sogar Pottwale, die in den ruhigen Gewässern schwimmen. Oft schwimmen auch sie selbst vor der paradiesischen Spiaggia dei Conigli, wo der ausgebleichte Sand Hitze ausstrahlt und gelegentlich Schwärme von Papageienfischen pfeilschnell durch das gebrochene Licht der Bucht schießen und Farbtupfer auf die weiße Leinwand spritzen. Im Sommer suchen sich die seltenen Unechten Karettschildkröten diese Strände aus, um ihre Eier abzulegen. Seine Frau meint, es liege daran, dass die Natur erkennt: Mit allem, was an Land gespült wird, wird Lampedusa stets behutsam umgehen.
Die Füße des Optikers hämmern weiter. Von der Hitze pulsiert eine verknotete Ader über seinem rechten Ohr, und er kann ihr Pochen über seine Glatze bis in seinen Schädel hinein verfolgen. Er geht gern an seine Grenzen, muss spüren, wie sein Körper sich verausgabt. Schlank und fit war er schon immer. Vor Jahren hatte er die körperliche Disziplin des Militärdiensts genossen, und obwohl er inzwischen Ende fünfzig sein dürfte, vernachlässigt er sich nicht.
Ein Halbwüchsiger rast auf einer alten Vespa an ihm vorbei, der laute Motorlärm durchbricht die Stille seines Laufs. Der Optiker sieht zu, wie der Junge mit kreischenden Reifen und aufheulendem Motor ganz sinnlos Spuren in den Staub zeichnet. Für Jugendliche gibt es hier abends nur wenig zu tun - eine Handvoll Bars und Cafés, ein kleiner Klub mit einer Karaokeanlage. Seine Eltern hatten nicht gewollt, dass er sich nach dem Schulabgang in Neapel herumtrieb, sich langweilte und Ärger bekam. Sie hatten ihn auf eine Berufsfachschule für Schneider geschickt, wo er lernte, Maßanzüge anzufertigen. Mit seiner Maßgenauigkeit und seinem präzisen Schnitt hatte er sic