Tiefpreis
CHF73.60
Print on Demand - Exemplar wird für Sie besorgt.
Entgegen den aktuellen kulturwissenschaftlichen Ansätzen, die sich einseitig am Phänomen der Schrift oder an Bild oder Bildmedien orientieren, ist das Buch von Reinhart Meyer-Kalkus ein Plädoyer zugunsten der klanglich-musikalischen Dimension der Sprache und der Sprechkünste.
Es erschließt eine weitverzweigte Diskussion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in Literatur- und Theaterwissenschaft, in Psychologie, Sprachwissenschaft und Ästhetik geführt und durch die neuen Medien Telefon, Schallplatte, Radio und Tonfilm stimuliert wurde.
"Reinhart Meyer-Kalkus, Koordinator am Wissenschaftskolleg zu Berlin, hat ein wunderbares Buch zur Geschichte der Stimme verfasst. (...) Wer jemals Zweifel hatte, ob Geisteswissenschaften gesellschaftsrelevantes' Wissen zu produzieren vermögen (...), der wird durch Reinhart Meyer-Kalkus mit Nachdruck eines Besseren belehrt. Solche Wissenschaft wird niemand missen wollen: Sie hat den Sitz im Leben' und geht doch keine schlechten Kompromisse ein nach Inhalt und Darstellungsform." (Daniel Krause, www.klassik.com)
Leseprobe
Ausdruckswahrnehmung und Verkörperung als symbolische Form (S. 28)
Die Kritik der Aufklärung hatte allen wissenschaftlichen Ambitionen der Physiognomik den Boden entzogen. Allerdings waren die Diskussionen seit dem 19. Jahrhundert durchaus vielstimmig, und es fehlte nicht an Positionen, welche der Physiognomik eine zwar begrenzte, aber keineswegs zu ignorierende Rolle zuwiesen.
Wilhelm von Humboldt etwa bezeichnete es als Vorteil der Physiognomik, daß sie uns "von dem, was (der Philosoph) nur in Begriffen erkannt hat, ein Bild" mache. Physiognomische Vorstellungen und Urteile mochten wissenschaftlich problematisch sein lebensweltlich waren sie ganz und gar unvermeidlich. Dies war der Tenor einer Physiognomik-skeptischen Traditionslinie von Lichtenberg bis hin zu Ernst Cassirer.
Für Ernst Cassirer (1874 1945) war die Physiognomik der Eckstein einer Theorie der Ausdruckswahrnehmung. An diese, heute wenig bekannten Überlegungen ist hier umso mehr zu erinnern, als sie die physiognomische Aus- druckswahrnehmung als symbolische Form begreifen, die mit anderen symbolischen Formen in engem Austausch steht und in sich wandelnde Bedeutungszusammenhänge eingesponnen ist.
Was scheinbar Akt einer unvermittelten Einfühlung oder "Wesensschau" von Gestalten ist, wie viele Physiognomiker der Zwanziger Jahre unterstellten, ist für Cassirer Teil einer Phänomenologie geistiger Funktionen und Energien, unlösbar verbunden mit dem geistigen Horizont einer bestimmten Zeit. Aus dem Gesichtspunkt der Ausdruckswahrnehmung als symbolischer Form ist es möglich, die physiognomischen Trugschlüsse der traditionellen Ausdrucksästhetik zu umgehen und einen Begriff des Ausdrucks zurückzugewinnen, der zumal für die Wahrnehmung von Stimmen unverzichtbar ist.
"Physiognomik ist der Beginn der Ausdruckskunde, und Ausdruckskunde ist eine Lehre vom Symbolischen", so hat John M. Krois, einer der berufensten Cassirer-Interpreten, behauptet. Durch die freundschaftlichen Verbindungen zu Aby Warburg und dessen Hamburger Kulturwissenschaftlichen Bibliothek war Cassirer u. a. auf die Bedeutung von körperlichen Ausdrucksgebärden in der Bildenden Kunst gelenkt worden.
Während Warburg und seine Schüler deren geschichtliche Überlieferung im Rahmen einer historischen Ausdruckslehre untersuchten, thematisierte Cassirer das "Urphänomen des Ausdrucks und des ausdrucksmäßigen Verstehens " in philosophischer Absicht. Seine reifsten Überlegungen dazu finden sich im 3. Band der Philosophie der symbolischen Formen (1929). Demnach ist unsere Wirklichkeit auf tiefgreifende Weise durch einen "Ausdrucks-Sinn" bzw. durch physiognomische "Ausdrucks-Wahrnehmungen" bestimmt.
Diese seien "Grundmomente des Wahrnehmungsbewußtseins" und gingen jeder objektivierenden Erkenntnis von Personen und Sachen voraus. In der Ausdruckswahrnehmung erschließe sich uns die Welt auf unmittelbare Weise, als freundlich oder feindlich, heiter oder bedrohlich, warm oder kalt. Die Ausdruckswahrnehmung bahne uns einen Zugang zur Wirklichkeit auf eine primitive, man könnte auch sagen: ursprüngliche Weise, die durch keine andere symbolische Form (wie etwa die wissenschaftliche Erkenntnis) ersetzt werden kann.
Unsere Weltzugehörigkeit und Mitfühlfähigkeit machen sich geltend, wenn wir durch die "Gesamterscheinung" einer Situation unmittelbar betroffen werden, durch ihren "Charakter des Lockenden oder Drohenden, des Vertrauten oder Unheimlichen, des Besänftigenden oder Furchterregenden, der in dieser Erscheinung, rein als solcher und unabhängig von ihrer gegenständlichen Deutung, liegt.
" Wir unterliegen dann einer "lebendigen Wirksamkeit" mit der Situation, in die wir mit Gefühl, Einbildungskraft und allen Sinnen involviert werden. Cassirer polemisiert gegen die zeitgenössische Wahrnehmungspsychologie, derzufolge uns die Wirklichkeit durch elementare sinnliche Empfindungen, etwa als Farbflecke oder Tastempfindunge
Inhalt
1;Inhaltsverzeichnis;6
2;I. EINLEITUNG: Rede, damit ich dich sehe!;10
2.1;1. Lichtenberg über die Physiognomik der Stimme;13
2.2;2. Rückblick auf die Geschichte der Physiognomik der Stimme;22
2.3;3. Ausdruckswahrnehmung und Verkörperung als symbolische Form;37
2.4;4. Physiognomische Trugschlüsse;51
2.5;5. Die Stimme als Gestalt und akustische Maske;55
2.6;6. Koexpressivität von Stimme und Gestik;60
2.7;7. Körperlose Stimmen Suspendierte Koexpressivität und Rekonfiguration;69
2.8;8. Der physiognomische Blitz;79
3;II. PHILOLOGIE: Die Schallanalyse von Eduard Sievers;82
3.1;1. Ohren- statt Augenphilologie;82
3.2;2. Sievers rhythmisch-melodische Studien;88
3.3;3. Die Rutzsche Typenanalyse;97
3.4;4. Sievers und die experimentelle Psychologie der Leipziger Wundt-Schule;103
3.5;5. Zeitgenössische Rezeption und Kritik der Schallanalyse;115
3.6;6. Die Arbeit am System der Schallanalyse;124
4;III. Echos der Ohrenphilologie;135
4.1;1. Sprachwissenschaft und Sprecherziehung;135
4.2;2 . Russischer Formalismus und Cercle linguistique de Prague;140
4.3;3. Theorie der Vielstimmigkeit erzählender Texte (Michail Bachtin);144
5;IV. AUSDRUCKSPSYCHOLOGIE UND SPRACHWISSENSCHAFT: Karl Bühler über den Ausdruck in Stimme und Sprache;152
5.1;1. Darstellung, Ausdruck und Appell das Organon-Modell;152
5.2;2. Resonanz und Indizien Bühlers physiognomisches Radio-Experiment;163
5.3;3. Bühlers Dialog mit der Phonologie (N. S. Trubetzkoy);171
5.4;4. Ansätze zu einer Lautstilistik;181
5.5;5. Ludwig Wittgenstein über Tonfälle und Ausdrucksspiele;183
6;V. Expressive Lautsymbolik;188
6.1;1. Nostalgie nach sprachlicher Unmittelbarkeit Karl Bühlers Analyse der Lautmalerei;188
6.2;2 . Heinz Werners Physiognomik der Sprache;194
6.3;3 . Ernst Jüngers Lob der Vokale ;203
7;VI. Sprechkünste im 20. Jahrhundert;222
7.1;1. Der Wandel vokaler Vortragsformen soziale und historische Voraussetzungen;222
7.2;2. Die Sprechkunstbewegung um 1800;232
7.3;3. Der "Sprechsänger mit dem Stimmreiz" Josef Kainz;260
7.4;4 . Sprechmelodien und absolute Schauspielkunst im Sturm -Kreis (Rudolf Blümner, Kurt Schwitters);272
7.5;5. Dadaistische Lautpoesie Hugo Ball;290
7.6;6. Sprechmelodien im Melodrama Arnold Schönbergs Zusammenarbeit mit Albertine Zehme in Pierrot Lunaire ;308
7.7;7. Akustische Masken Elias Canetti;327
7.8;8. Gesang und Sprache bei Mensch und Tier: Charles Darwin und Franz Kafka;345
8;VII. Tonfilm und Radio in der Weimarer Republik;355
8.1;1. Vom Stumm- zum Tonfilm (Béla Balázs, Fritz Lang);355
8.2;2 . Die Stimme am Mikrophon Theorien der Radiokunst;372
9;VIII. PSYCHOANALYSE: Die Triebtheorie der Stimme;391
9.1;1. Hören mit dem Dritten Ohr (Freud und seine Schüler);391
9.2;2. Die Psychoanalyse als Linguistik der Rede (Freud, de Saussure, Lacan);4…