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Charly wird von vergessenen Geschehnissen und einer alten Schuld eingeholt. Er muss feststellen, dass sich zurückreichende Beziehungen auch nach Jahrzehnten kaum verändern.
Wer sich einmal auf seine Vergangenheit einlässt, kann sich nur schwer wieder aus ihrem Griff befreien. Charly Brom, Autor und Familienvater, wird eines Tages von einem Anruf in seine Jugend zurückgeworfen. Es geht um einen Todesfall, der sich in seinem Heimatdorf zugetragen hat vor mehr als zwanzig Jahren. Charly verfällt in Panik und legt auf. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als nach Neubad zurückzukehren, wo seine Mutter und Großmutter, zwei eigenwillige Charaktere, umgeben von Erinnerungen und Trödel, ein zurückgezogenes Leben führen. Erschüttert muss Charly feststellen, dass er trotz seines Erfolgs emotional auf der Stelle tritt, gefangen in den unveränderten Dynamiken und unausgesprochenen Geheimnissen seiner eigenen Familie. Während er versucht, sich seinen Ängsten zu stellen, scheint die Vergangenheit Charly zum Narren zu halten.
»Lukas Linder erwischt die Kurve weg vom Kalauer und hin zur Relevanz im richtigen Moment - und präsentiert so ein sowohl leichtfüßig amüsantes, als auch zutiefst ehrliches Werk.« David Kilchör, Schaffhauser AZ, 05.09.2024
Autorentext
Lukas Linder, geboren 1984, studierte Germanistik und Philosophie. Er ist Dramatiker, schrieb u. a. für das Theater Basel und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter mit dem Kleist-Förderpreis, dem Publikumspreis des Heidelberger Stückemarkts und 2021 mit dem Kasseler Förderpreis Komische Literatur.Nach seinen Romanen Der Letzte meiner Art (2018) und Der Unvollendete (2020), dem Geschenkbuch Die Kunst der Guten Woche (2022), erscheint nun sein dritter Roman Charly Broms Dilemma bei Kein & Aber. Lukas Linder lebt in der Nähe von Zürich.
Leseprobe
Das Loch
Ich gehe nicht gern ans Telefon. Vor allem, wenn ich die Nummer nicht kenne. Ich kann nämlich überhaupt nicht Nein sagen, schon gar nicht zu Fremden und schon gar nicht am Telefon. Am Ende stehe ich da mit einem Monatsabo für Gewürzgurken mit zehnjähriger Kündigungsfrist. Das ist mir jetzt schon zweimal passiert.
Ich weiß daher wirklich nicht, was mich an dem Morgen geritten hat, den Anruf anzunehmen. Vielleicht lag es an der Nummer. Sie hatte so etwas Heimeliges.
»Brom?«
Das ist mein Name. Tut mir leid. Ich kann nichts daran ändern.
»Charly?«, hörte ich eine männliche Stimme fragen. Sie kam mir überhaupt nicht bekannt vor, klang irgendwie dumpf und gepresst. So als stecke dem Sprecher noch die Hälfte eines Schinkenbrotes im Hals.
»Charly? Wir müssen reden.«
Es war halb elf. Ich seufzte.
»Mit wem spreche ich?«
Ich stand im Wohnzimmer am Fenster. Unten schlurfte der Verwalter unserer Siedlung entlang. Ein Mann unbestimmten Alters, der Sommer wie Winter eine braune Hose und eine dazu passende braune Jacke trägt. In meinen Augen ein gemeingefährlicher Typ.
»Hier ist Hefti. Daniel Hefti.«
Im ersten Moment sagte mir der Name gar nichts. Dann aber kam es mir in den Sinn. Daniel Hefti. Natürlich. Er war Musiklehrer in Neubad, dem Dorf meiner Kindheit und Jugend gewesen. Davor hatte er an einer Steinerschule unterrichtet, weshalb er als unberechenbarer Exot galt. Ich hatte Jahre nichts mehr von ihm gehört. Um ehrlich zu sein, ich dachte, er sei längst tot.
»Wie gehts denn so?«, fragte ich gequält.
Ich mag es nicht besonders, von Untoten aus der Vergangenheit angerufen zu werden. Dann lieber Leute, die mir Gewürzgurkenabos andrehen wollen.
»Ich kann nicht mehr länger damit leben«, sagte Daniel Hefti.
Es kommt relativ häufig vor, dass mich Leute an der Schwelle zum Wahnsinn anrufen. Vielleicht liegt es daran, dass ich Kriminalromane schreibe, in denen alle paar Seiten Figuren auf das Bestialischste ermordet werden. Sie sagen sich, wenn einer meine psychische Verfassung verstehen kann, dann Charly.
»Was ist denn passiert?«, fragte ich in dem psychiatrischen Ton, den ich mir in all diesen Gesprächen angewöhnt hatte.
»Hör zu, Charly. Ich weiß, was damals passiert ist.«
»Ich verstehe nicht. Was meinst du damit?«, fragte ich, und eine seltsame Nervosität kam in mir auf.
»Walter Bruckner.«
In der Wohnung war es totenstill. Nina, meine Frau, war an der Uni und unser Sohn Emil im Kindergarten, wo er sich mit den neuesten Viren und Bakterien infizierte. Ich war allein. Trotzdem flüsterte ich, als ich weitersprach.
»Was ist mit Walter Bruckner?«
»Ich weiß, was damals mit ihm passiert ist. Ich weiß, warum er gestorben ist.«
Er schluckte. Ich konnte förmlich hören, wie das Schinkenbrot seine Kehle herunterrutschte.
»Und ich weiß, dass du es auch weißt.«
»Ich wünsche dir noch einen schönen Tag«, sagte ich, als hätten wir uns wirklich nur über Gewürzgurken unterhalten, und legte auf.
Eine Weile starrte ich regungslos auf das Handy und wartete, dass es von Neuem klingelte. Doch es schwieg bedrohlich.
Verdrängen ist eine wunderbare Sache. Ich tue es schon mein Leben lang. Und nicht nur ich. Alle Menschen. Es ist die humanste Form, am Leben zu bleiben. Doch während die meisten Menschen Entlastung in Drogen, Serien oder Fünfgangmenüs suchen, wählte ich damals eine etwas andere Strategie: Ich kaufte eine Schaufel. Erst hatte ich sie einfach aus meinem Werkzeugvorrat holen wollen, doch stellte ich fest, dass dieser nur aus einer kaputten Taschenlampe und einer Zange bestand. Was hatte ich nur mit der Zange gewollt? Doch blieb keine Zeit zum Räsonieren. Ich musste verdrängen. Also fuhr ich zum nächsten Baumarkt, und schon eine Stunde später stand ich mit einer brandneuen Schaufel in unserem Garten und machte mich an die Arbeit.
Wir wohnen in einem Fünfzigerjahreblock, der gemeinsam mit drei weiteren Häusern, die genau gleich aussehen, eine Gemeinschaft bildet. Dazu gehört auch eine kleine Wiese, die als Grünfläche zum Spielen oder Gärtnern gedacht ist, von den Anwohnern jedoch ausschließlich als Parkplatz benutzt wird. Wir sind die einzigen, die hier nicht parken und dafür an manchen Abenden bis zu einer halben Stunde durch die Gegend kurven. Bei den anderen Anwohnern gelten wir darum als fanatische Idioten.
An diesem Nachmittag machte ich mich daran, meinen Ruf noch weiter zu zementieren. Es war Januar und entsprechend kalt. Der Boden kam mir auch gefroren vor, doch war, was ich für Frost hielt, vielleicht einfach nur Ausdruck meiner körperlichen Schwäche. Bei jedem klirrenden Aufprall der Schaufel hatte ich wieder den Ton von Daniel Heftis Stimme im Ohr. Ich weiß, warum Walter Bruckner gestorben ist. Und ich weiß, dass du es auch weißt.
Ich musste sie vergraben. Ich musste ein tiefes, tiefes Loch schaufeln und die Stimme darin vergraben. Ich weiß, das klingt vollkommen verrückt, aber schließlich hatte ich mich zwanzig Jahre vor diesem Anruf gefürchtet. Er hatte so lange auf sich warten lassen, dass die Furcht unterdessen surreal geworden war. Wie ein Albtraum, der immer näher kommt. Und jetzt war er da. Jetzt hatte er angefangen.
Um vier kam Nina mit Emil nach Hause. Nina und ich haben vor zehn Jahren geheiratet. So viele Jahre überlebt niemand schadlos. Doch wir sind ein gutes Team. Früher haben wir viel Tischtennis gespielt. Heute sitzen wir oft stundenlang virtuos im Wohnzimmer herum.
»Was machst du da, Papa?«, fragte Emil sichtlich erschrocken. Er war den Anblick körperlicher Arbeit bei seinem Vater nicht gewohnt und hatte sofort begriffen, dass etwas nicht in Ordnung war.
»Das siehst du doch. Ich grabe ein Loch«, erwiderte ich etwas unwirsch, denn mein klägliches Vorankommen schlug mir auf die Laune.
»Papa gräbt ein Loch oder versucht es zumindest«, erklärte Nina. »Offenbar hat er Lust dazu.«
»Aber wozu?«
Weil mein Albtraum wahr geworden ist, hätte ich wahrheitsgemäß antworten müssen. Doch so etwas sagt man nicht zu einem Fünfjährigen. Also wählte ich eine etwas positivere Variante.
»Ich grabe ein Loch, weil ich ein Lo…