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Campus Historische Studien
Die historische Forschung hat Gewalt bislang vorwiegend in Bezug auf Kriege, Morde oder Genozide behandelt. Francisca Loetz plädiert dafür, Gewalt darüber hinaus als Form individuellen sozialen Handelns zu begreifen, das als unerträgliche, auf die Niederwerfung des Opfers zielende Grenzverletzung wahrgenommen wurde. Am Beispiel von Fällen sexualisierter Gewalt im Stadtstaat Zürich zwischen 1500 und 1850 diskutiert Francisca Loetz zentrale methodologische Probleme: von der Definition des Gewaltbegriffs bis zur Frage, was in einer Gesellschaft Gewalt zu Gewalt macht. Auf dieser Grundlage entwickelt sie programmatische Perspektiven für eine historische Gewaltforschung Europas vom 16. bis ins 19. Jahrhundert.
»Die Autorin [vermag] ein facettenreiches Bild über die Wahrnehmungen gewaltsamer Sexualität im Zürich der Frühen Neuzeit und der Sattelzeit nachzuzeichnen.«, Schweizerische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft "Ein wohlformuliertes, analytisch vorgehendes Buch.", Neue Zürcher Zeitung, 05.04.2013
Vorwort
Campus Historische Studien
Autorentext
Francisca Loetz ist Professorin für Geschichte der Neuzeit am Historischen Seminar der Universität Zürich.
Leseprobe
Tue ich jemandem Gewalt an, wenn ich etwa in einem vollen Bus durch kräftiges Schubsen die entsprechende Person zwinge, in den Gang zu rücken, damit ich auch noch einsteigen kann? Muss ich ihr erst körperlich weh tun, damit mein Drängen zu Gewalt wird? Wird, was ich als legitimes Drängen betrachte, möglicherweise als illegitime oder intolerable Grenzverletzung empfunden? Teilen die bedrängte Person und die Umstehenden dieselbe Vorstellung von Grenzüberschreitung? Die enge Definition von Gewalt als illegitime körperliche Verletzung des Gegenübers, wie sie wenige historische Lexika anbieten, ist handlich und erfüllt gute arbeitspragmatische Dienste, ist aber nur vermeintlich eindeutig. Wer Gewalt als illegitime Überschreitung der physischen Grenzen anderer begreift, kann Gewalt leicht abgrenzen. Mit Krieg, Mord, Vergewaltigung, Folter, Körperstrafen und Schlägerei ist das Untersuchungsfeld grob umrissen. Doch Gewalt ist vielschichtiger. Es ist nicht so einfach zu bestimmen, wo Körper und körperliche Verletzung anfängt, wo Aggression in Gewalt umschlägt. Reicht ein blauer Fleck für "Gewalt" aus oder muss Blut fließen? Ist es keine Gewalt, wenn ich eine Person einsperre, um über sie verfügen zu können, ohne sie dafür körperlich anzutasten? Kann eine illegitime physische Verletzung nicht auch toleriert werden? Gewalt geschieht nicht nur mit Händen und Waffen, sondern auch mit Worten und Gesten. Sie verletzt nicht nur den Körper, sondern auch die Psyche. Sie ist nicht nur roh, sondern auch ritualisiert. Nicht umsonst definieren Überblicksdarstellungen der Psychologie, Pädagogik, Kriminologie oder Soziologie Gewalt als körperliche Grenzverletzung, weisen aber gleichzeitig darauf hin, dass Gewalt über physische Verletzung hinausgeht. Ich halte daher aus zwei Gründen einen weiter gefassten Gewaltbegriff für die Erforschung von Gewalt für notwendig. Erstens erweist sich das Kriterium der körperlichen Grenze nicht als überzeugend. Das Problem, wo Gewalt anfängt beziehungsweise aufhört, stellt sich nicht erst heute, sondern sorgte auch im Zürich der Helvetik für Unsicherheiten. Mit der Helvetischen Verfassung von 1798 war zwar die Folter abgeschafft worden, doch belegen Nachfragen der regionalen Gerichte, dass damit noch längst nicht klargestellt war, was hieraus folgte. Aus der Erfahrung, dass die Amtleute der untergeordneten Behörden die Angeklagten mit Stockschlägen zu einem Geständnis zu bewegen versucht hatten, verfügte der Rat als Gesetzgeber schließlich, dass "nicht nur alle bekannten Gattungen der Folter, welche ehemals in eint und andern Orten üblich waren, sondern alle körperliche Peinigung, als Zwangmittel zu Erpreßung eines Geständnißes bei Nachsuchung der Verbrechen gänzlich untersagt" seien. Offenbar bedurften die Untersuchungsbehörden genauerer Bestimmungen, um zu erkennen, wo die Grenzen zu illegitimer körperlicher Verletzung verliefen. Aus einem offeneren Gewaltbegriff folgt zweitens nicht, dass alles und jedes zu Gewalt deklariert wird. Wenn Gewalt als eine Normüberschreitung verstanden wird, die eine Gesellschaft für unerträglich hält, dann ist Gewalt eine Form sozialen Handelns, die konzeptionell eingegrenzt werden kann. In einer Gesellschaft, in der die körperliche Unversehrtheit eines Menschen keine soziale Norm ist, kann - wie in der Frühen Neuzeit - der Ehemann verpflichtet sein, die Ehefrau körperlich zu "maßregeln", ohne dass die Grenzen zwischen legitimer und nicht mehr tolerabler Gewalt klar wären. In Gesellschaften, in denen - wie dies in westlichen Industrieländern bis vor einigen Jahrzehnten der Fall war - dem Ehemann ein Anrecht auf notfalls mit Gewalt erzwungenen ehelichen Geschlechtsverkehr zugestanden wird, entspricht die invasive körperliche Handlung einer sinnvollen und gesellschaftsstabilisierenden, das heißt die Institution der Ehe begründenden Norm. Die Regeln, die das Zusammenleben der Mitglieder einer Gesellschaft prägen, bestimmen also, was in dieser Gesellschaft als Gewalt betrachtet wird oder auch nicht. Gewalt kann als Grenzverletzung körperlicher, aber auch psychischer oder symbolischer Art sein und will durch tiefe Verletzung unterwerfen und zerstören. Die Gewaltausübenden können dabei auf ihre Opfer oder Dritte zielen, aber auch allein die Lust an der Gewalt im Auge haben. Gewalt ist jedoch nicht mit Kränkung und jeglicher Verletzung zu verwechseln. Eine Person, die bewusst oder unbewusst eine andere kränkt oder verletzt, geht über deren Willen und Bedürfnisse hinweg. Sie weist die andere Person ab, beleidigt sie, beschämt sie vielleicht auch, was sie durchaus zu ihrem Vorteil nutzen kann. Eine Person hingegen, die Gewalt ausübt, zielt mit den schweren Verletzungen, die sie zufügt, darauf, sich eine andere Person zu unterwerfen. Was eine "leichtere" und was eine "schwerere" Verletzung ist, lässt sich also nicht phänomenologisch daran erkennen, ob etwa Blut geflossen ist und Knochen gebrochen worden oder gar keine physischen Übergriffe erfolgt sind, sondern daran, was bei den Opfern bewirkt werden soll beziehungsweise bewirkt wird. Solange die Unterscheidung zwischen einer Handlung, die irgendwie verletzt und einer Handlung, die durch Grenzverletzung auf die gesellschaftlich nicht tolerierte Niederwerfung der verletzten Person zielt, aufrecht erhalten bleibt, solange kann der Gewaltbegriff auch andere als körperliche Aspekte einschließen, ohne den Untersuchungsgegenstand aufzulösen. Ein weiter, aber nicht konturloser Gewaltbegriff, der über die vermeintlichen Grenzen des Körpers hinausgeht, ist die bessere konzeptionelle Lösung, um dem Phänomen Gewalt gerecht zu werden. Der offenere Gewaltbegriff hat einen zusätzlichen Vorteil. Er ermöglicht eine Akzentverlagerung in der Betrachtungsperspektive. Wenn Gewalt auf die Niederwerfung der Opfer zielt, dann steht nicht mehr so sehr die Frage im Zentrum, was Gewalt ist. Vielmehr lautet nun die Frage, welche Wirkungen Gewalt hat beziehungsweise haben soll. Dies führt zur Grundsatzfrage, was Gewalt in einer Gesellschaft zu Gewalt macht. Gewalt ist nicht mehr eine feste, ontologische Größe, sondern eine relative Kategorie, indem bestimmte Verhaltensformen für eine Gesellschaft dadurch zu Gewalt werden, dass diese Verhaltensformen von den Mitgliedern der jeweiligen Gesellschaft als nicht tolerable Grenzverletzung eingeschätzt und erlebt werden. Schlicht ausgedrückt: Gewalt ist, was eine Gesellschaft als Gewalt anerkennt - eine trivial klingende Feststellung, die so trivial nicht ist, wenn man bedenkt, wie eindimensional die Forschung Gewalt als illegitime physische Grenzverletzung betrachtet. Die einführend diskutierten Probleme der Erkenntnisinteressen verschiedener Disziplinen sowie des Gewaltbeg…